Die Coronakrise fräst sich derzeit in alle Gesellschaftsbereiche, die damit einhergehenden Veränderungen sind immens. In Kooperation mit dem Verein „DENKwerk Steiermark“ werfen zahlreiche Experten aus unterschiedlichsten Bereichen einen persönlichen Blick auf die Zukunft nach Corona. Der Gesundheitsexperte Christian Lagger über das österreichische Gesundheitssystem, das sich gegenüber dem Virus als handlungsstark und resilient erwiesen hat.

Plötzlich war es in Österreich. Das Virus SARS-CoV-2 (=offizielle Version Stand Mai 2020) oder einfach Corona. Corona wird wohl das Wort 2020 werden. Plötzlich ist alles in allem und überall anders. Die Bilder aus der Lombardei und aus Bergamo lehren das Fürchten: Viele Särge, erschöpfte Ärzte/innen und Pfleger/innen etc. Eine wahre Schockwelle geht durch Europa. Politische Entscheidungsträger stehen vor großen Herausforderungen: Wie soll reagiert werden? Was ist jetzt wichtig? Was muss zuerst getan werden? Welche Maßnahmen im Kampf gegen das Virus sind am wirkungsvollsten? Der Lock-down wurde auch in Österreich zum Königsweg mit tief greifenden Folgen für alle Lebensbereiche: „stay home“ wurde zum Motto gesellschaftlichen Lebens, die Einschränkung zur Norm.

Folgen werden wir noch länger spüren

Das Ziel der Maßnahmen besteht darin, die Reproduktionsrate einer Ansteckung unter 1 zu drücken, das heißt, ein Infizierter steckt weniger als eine Person an. Damit könnte möglicherweise das Virus „ausgehungert“ werden. Da das Virus in seiner schwersten Krankheitsausprägung zu einer radikalen Beeinträchtigung der Lungen- und Atmungsfunktionen führen kann, sind ausreichende intensive Behandlungskapazitäten entscheidend. Das Gesundheitssystem und insbesondere die Krankenanstalten inklusive ihrer Beatmungseinheiten sollten nicht überlastet werden und funktionsfähig bleiben. Zum Zwecke dieser Bereitschaftsvorhaltungen und um die Ansteckungsgefährdung möglichst hintanzuhalten, wurden in allen Krankenanstalten jene medizinischen Leistungserbringungen, die nicht Notfälle waren, zurückgefahren. Die Folgen werden wir noch länger spüren.

Als sich die Epidemie auszubreiten begann, wurde auch die Reform des Gesundheitssystems infrage gestellt. Denn Betteneinsparungen seien doch gefährlich, wie die Coronakrise gerade am Beispiel Italiens zeige, der Begriff „kaputtsparen“ war rasch zur Hand. Der Vergleich mit Italien ist in dieser Frage mehr als problematisch. In der stark betroffenen nördlichen Region Italiens leben 16 Millionen Menschen, für die aber nur 500 Intensivbetten zur Verfügung stehen. In Österreich gibt es für 8 Millionen Menschen 3000 Intensivbetten. Aber weitaus bedeutsamer ist die Beachtung der Unterscheidung zwischen Notfall- bzw. Epidemieversorgung und normaler Regelversorgung.

Das ist erfreulich und sollte uns stolz machen

Das österreichische Gesundheitssystem hat sich gegenüber dem Virus als handlungsstark und resilient erwiesen. Das ist erfreulich und sollte uns stolz machen. Betreffend Prävention aber hat uns die Situation am falschen Fuß erwischt, zu lange schon waren wir nicht mit einer so umfassenden infektiologischen Gefährdung konfrontiert (oder haben Ausbrüche in anderen Ländern nicht ernst genug genommen und bisher einfach Glück gehabt, Stichwort MERS, EBOLA und Co.). Deshalb gibt es für die Zukunft auch einige Lehren zu ziehen. So sollten die Krisenstäbe der Länder stärker die Gesundheitsfonds einbeziehen, die mittlerweile viel Know-how und Datenwissen haben, das hilfreich genützt werden könnte. Die Zusammensetzung der jetzigen Krisenstäbe folgt Regelungen aus einer Zeit, bevor es die Gesundheitsfonds gab. Weiters sollten auch die Kapazitäten der privaten Sanatorien mitberücksichtigt und für Krisenszenarien eingeplant werden. Es wird zukünftig in jedem Krankenhaus Teams geben müssen, die bezogen auf eine Epidemie regelmäßige Schulungen besuchen und andere trainieren können. Diese Teams könnten dann die „Virus- Emergency Marines“ für den Ernstfall vor Ort sein. Es wird wohl auch auf Produktionsstätten von Masken, Schutzkleidung und Desinfektionsmittel in den Europäischen Regionen zu achten sein, die im Notfall die Produktion hochfahren können, um globale Abhängigkeiten und Versorgungsgefährdungen durch Lieferkettenunterbrechungen zu vermeiden.

Bezogen auf die Regelversorgung ist die Reform des Gesundheitssystems hingegen (und das wird gerne übersehen) ein Dauerauftrag. Es geht gerade darum, die Versorgungsstrukturen für die Menschen fit und wirksam zu halten. Das heißt aber auch, sie permanent den sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Die Menschen werden älter und brauchen spezifische medizinische und pflegerische Dienstleistungen. Die Mobilität der Bevölkerung ermöglicht dabei neue Ansätze und relativiert Erreichbarkeits- und Standortfragen. Digitale Hilfsmittel bieten neue Formen medizinischer Beratung und Begleitung.

Reform des Gesundheitssystems darf nie Selbstzweck sein

Der Fortschritt medizinischer Forschung verändert gewohnte Versorgungsstrukturen. Die Reform des Gesundheitssystems darf freilich nie Selbstzweck sein und hat seine Berechtigung allein im Nutzen für die Menschen, die in ihrer Erkrankung wirksame Hilfe auf der Höhe der Zeit benötigen. Der steirische Weg mit Leitspitälern, einsatzstarken Gesundheitszentren im Verbund mit einem vitalen wohnortnahen Hausarztsystem hat gute Chancen, dem gerecht zu werden. Die Regelversorgung darf nicht von der Ausnahmesituation einer Epidemie abgeleitet werden. Die Regelversorgung muss aber strukturell so aufgestellt werden, dass sie ihre Prozesse sehr rasch auf die Erfordernisse einer Pandemiebekämpfung konzentrieren kann. Das hat viel mit Plan, Vorbereitung, Training und Kooperation zu tun. Das hat wenig mit dem Aufstellen Tausender Betten zu tun. Die jetzt auftauchenden Forderungen erinnern an jene Bauverordnung, die nach Tschernobyl jeden hiesigen Häuselbauer dazu zwang, einen Strahlenbunker einzurichten. Der einzig positive Effekt war, dass eine gute Lagerfläche für Wein geschaffen wurde. Inzwischen ist die Verordnung wegen völliger Nutzlosigkeit in den Friedhof der gut gemeinten Anlassaktionen entschwunden.

Christian Lagger, Studien der Theologie, Philosophie und Business Administration. 2001 bis 2009 Bischöflicher Sekretär von Bischof Egon Kapellari, seit 2010 Geschäftsführer bei den Elisabethinen, seit 2016 Sprecher der Elisabethinen Österreich. Lehrender an der FH Joanneum und an der Universität Graz, Unternehmens- und Führungskräfteberater.