Die Vorwürfe gegen die SOS-Kinderdörfer in Moosburg, Seekirchen und Imst erschüttern Österreich. Gewalt, Misshandlungen, sexueller Missbrauch – eine interne Studie des SOS-Kinderdorfs legt schwerwiegende Missstände offen. Wie die Wiener Wochenzeitung Falter berichtet, sollen Kinder über Jahre hinweg geschlagen, eingesperrt und nackt fotografiert worden sein. Entsprechende Bilder wurden demnach auf privaten Computern gefunden – ein Pädagoge soll sogar das Foto eines Kindes ohne Hose als Desktop-Hintergrund verwendet haben.
Auch ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner von SOS-Kinderdörfern erheben schwere Vorwürfe. Eine Kommission unter der Leitung der ehemaligen OGH-Präsidentin Irmgard Griss, die diese Fälle und das System untersuchen soll, ist gestern erstmals zusammengetreten. Aufgrund der bekannt gewordenen Vorwürfe melden sich nun weitere Betroffene wie Marina Hubmann.
Vorwürfe gegen das SOS-Kinderdorf Stübing
Mit acht Jahren war ihr sehnlichster Wunsch nicht eine Puppe, sondern tot zu sein. Das schrieb Marina Hubmann in einer Anzeige, die sie 2002 bei der Staatsanwaltschaft Graz eingebracht hat – gegen ihre ehemalige SOS-Kinderdorf-Mutter Anna G. Von 1989 bis 1993 wuchs Marina Hubmann mit ihren drei Geschwistern im SOS-Kinderdorfheim Stübing in der Steiermark auf und war schwersten Misshandlungen ausgesetzt.
Sie schildert einen Vorfall, bei dem sie mit schwerer Magen-Darm-Grippe und hohem Fieber über der Toilette erbrach. Die SOS-Kinderdorf-Mutter, Anna G., sei daraufhin ins Bad gestürmt, habe sie getreten, geschlagen, an den Haaren gepackt und ihren Kopf in die Toilette gedrückt, um ihr den Mund „auszuwaschen“. Auch ihre langen Haare, auf die sie stolz war, musste sie sich abschneiden. Nach einem Schädelbasisbruch bei einem Unfall soll Anna G. ihr zusätzlich auf den Kopf geschlagen haben, woraufhin sie seitdem an Tinnitus leidet. Auch ihre Geschwister waren Quälereien ausgesetzt.
Video: Marina Hubmann in der ZiB 2
Ungehörte Hilferufe und vergebliche Anzeigen
Meldungen bei der Heimleitung blieben ungehört. Die Erinnerung an die Schreie und das Wimmern aus anderen Zimmern und die eigene Hilflosigkeit prägen sie bis heute.
Eine ehemalige Mitbewohnerin, sie möchte anonym bleiben, bestätigt gegenüber der ZIB 2, dass Meldungen über Misshandlungen nicht geglaubt oder belächelt wurden. Oft sei den Kindern selbst die Schuld zugeschoben worden. Erst Jahre später, als 20-Jährige, gelang es Marina Hubmann, Anzeige zu erstatten. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren jedoch wegen Verjährung ein. Im Jahr 2002 suchte sie, inzwischen in Tirol lebend, Hilfe bei der Kinder- und Jugendanwaltschaft, doch auch dies verlief ergebnislos, da zum Fall kein Akt mehr auffindbar war.
Reaktion von SOS-Kinderdorf
SOS-Kinderdorf hat auf die Vorwürfe reagiert. Eine Telefonnotiz aus dem Jahr 1994 belegt, dass Marina Hubmanns leibliche Mutter bereits damals Misshandlungen an ihrer Tochter gemeldet hatte, jedoch ohne Konsequenzen. Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf, betont, dass die Organisation Verantwortung hätte übernehmen müssen und Fälle wie der von Marina Hubmann Teil der Reformkommission sein sollen. Sie versichert: „Wir glauben, Frau Hubmann, dass hier ihr Gewalt widerfahren ist. Das steht für mich außer Frage und das anerkennen wir auch. Wir können aus unserer Dokumentation nicht mehr nachvollziehen, was das genau war. Nichtsdestotrotz möchten wir hier Frau Hubmann versichern, dass wir ihr glauben und dass wir sie auch um ein Gespräch bitten und sie auch einladen in unserem Opferschutzverfahren hier für das Leid, auch noch einmal eine Unterstützung zu bekommen.“
Marina Hubmanns möchte Betroffenen Mut machen
In den vergangenen Jahren hat sich Marina Hubmann international vernetzt und Projekte initiiert, um auf das Thema Missbrauch aufmerksam zu machen. Ihr Ziel ist es, anderen Betroffenen Mut zu machen, sich zu melden: „Endlich den Stimmlosen eine Stimme zu geben und heute habe ich eine Stimme und ich nutze sie auch.“ Ihre ehemalige Kinderdorfmutter Anna G. ist inzwischen in Pension und wurde nie zur Rechenschaft gezogen.