Klewenalp am 8. Dezember 1999: Es ist der Morgen nach dem 27. Geburtstag von Hermann Maier, an dem der zwei Jahre alte Marco Odermatt in Begleitung seines Vaters Walter auf seinem Hausberg in der Zentralschweiz erstmals die Ski anschnallt. „Marco hat seinen ersten Alpin-Lauf ohne Kurve, aber auch ohne Sturz gemeistert“, erinnert sich der Papa. „Nach ungefähr fünf Fahrten war Marco derart müde, dass er unter der prallen Sonne am Pistenrand ein ausgiebiges Mittagsschläfchen gemacht hat.“ Sieben Jahre später fährt das Riesentalent aus dem kleinen Kanton Nidwalden seinen ersten Erfolg in Wengen ein: „Odi“ triumphiert in der Lauberhorn-Region im Riesenslalom des „Migros Grand Prix“, des wichtigsten Kinderrennens der Schweiz.

Ein wahrhaftiger Bubentraum geht für Marco im Winter 2008 mit dem Sieg beim Silvano-Beltrametti-Rennen in Erfüllung. Der erste Preis beinhaltet einen Skitag mit Didier Cuche. Und der fünffache Hahnenkamm-Champion ist seit jeher das ganz große Idol von Odermatt: „Die erste Fahrt mit Didier am Schlepplift auf dem Zermatter Gletscher werde ich nie vergessen“, erzählt Odermatt heute noch mit entsprechend glänzenden Augen, „bei der Begrüßung habe ich vor lauter Ehrfurcht kaum ein Wort über meine Lippen gebracht. Aber Didier hat mit seiner sehr herzlichen Art das Eis ganz schnell gebrochen. Ich konnte mich mit ihm bestens unterhalten. Und er hat mir skitechnisch einige sehr wertvolle Tipps gegeben.“

Marco Odermatt mit Papa Walter am ersten Skitag
Marco Odermatt mit Papa Walter am ersten Skitag © Privat

Altmeister Cuche (47) behauptet allerdings, dass er dem zehnjährigen Wunderknaben gar nicht viele Inputs geben musste: „Das große Talent war bei Marco schon damals deutlich zu erkennen. Bei ihm musste ich skitechnisch fast nichts korrigieren, einzig die Position seiner Arme musste ein wenig gerichtet werden.“

Doch trotz dieses außergewöhnlichen Potenzials hatten die Jugendtrainer damals oft Ärger mit Marco. Und das ist nicht zuletzt auf seinen Jugendfreund Fabian Bösch zurückzuführen, der mittlerweile als Freestyle-Skifahrer Weltruhm erlangt hat. „Die Trainer haben Marco und mich verflucht, weil wir nach den Rennen neben der Piste halsbrecherische Aktionen durchgeführt haben“, offenbart Bösch, der bei den X-Games 2016 und bei der WM 2019 Gold im Big Air gewonnen hat.

Maro Odermatt (rechts) mit Jugendfreund Fabian Bösch
Maro Odermatt (rechts) mit Jugendfreund Fabian Bösch © Privat

Und weiter: „Oft haben wir Saltos über selbst gebaute Kicker gemacht oder sind gefährliche Waldabfahrten hinuntergedonnert. In Zermatt sind wir einmal nur knapp dem Absturz in eine Gletscherspalte entkommen. Und nach einem JO-Rennen in Engelberg sind wir als kleine Knirpse auch einmal über einen hohen Felsen gesprungen.“ Fabian und Marco sind zwölf Jahre alt, als beide erste Erfahrungen als Freestyler sammeln: „Den Back- und Frontflip haben wir zusammen gelernt.“ Bösch ist überzeugt, dass die Freestyle-Basics Odermatt jetzt auch als Alpin-Rennfahrer zugutekommen: „Marco hat eine so gute Koordination, dass er auf der Piste Situationen meistern kann, in denen andere Rennfahrer ausscheiden.“

Der Zwölfjährige Odermatt am Koordinationsparcour:

Ein einziges Mal ist Odermatt in diesem Winter ausgeschieden. Und zwar ausgerechnet bei der WM in Cortina im ersten Durchgang seiner Paradedisziplin Riesenslalom. Die Konstanz, die der 23-Jährige im Weltcup an den Tag legt, ist aber einfach nur enorm beeindruckend. 19 von 18 Rennen hat er in den Top 13 beendet. Neun Mal grüßte er vom Podest, drei Mal stand er heuer schon ganz oben.

Deshalb war er zu Beginn der Finalwoche in Lenzerheide noch voll im Rennen, um als erster Schweizer seit Carlo Janka 2011 den Gesamtweltcup zu gewinnen – auch wenn die Absage der Abfahrt das Vorhaben, die 31 Punkte Rückstand auf Alexis Pinturault noch in einen Vorsprung umzuwandeln, nicht leichter macht. Aber: Knapp vierzig Kilometer von der Lenzerheide entfernt hat Odermatt vor gar nicht allzu langer Zeit seine beeindruckendste Talentprobe abgeliefert, als er bei der Junioren-WM in Davos 2018 fünf Mal an den Start ging und fünf Mal (!) Gold gewann (in Abfahrt, Super-G, Riesenslalom, Kombination und im Team).

Odermatt, der Patriot

„Um bei der Siegerehrung dem Bild eines patriotischen Eidgenossen gerecht werden zu können, habe ich nach meinem ersten Junioren-Weltmeistertitel den Text der Nationalhymne auswendig gelernt. Seitdem singe ich unsere Hymne bei jeder Gelegenheit mit viel Stolz und Inbrunst“, sagt er heute.

Marcos Patriotismus macht sich auch bei seinen Ski bemerkbar. Obwohl er seit Jahren von deutlich zahlungskräftigeren Ausrüstern gejagt wird, fährt Odermatt nach wie vor komplett auf die kleine Luzerner Skimarke „Stöckli“ ab. Erst vor zwei Wochen hat er seinen Vertrag um zwei weitere Jahre verlängert. Dass diese Ski wie gemacht sind für den „Urschweizer“, belegt das Beispiel des Norwegers Rasmus Windingstad, der 2019 beim Parallel-RTL in Alta Badia seinen bisher einzigen Weltcupsieg feierte. „Als Windingstad zu uns wechselte, wollte er die gleichen Ski fahren wie Odermatt“, verrät Stöckli-Rennchef Beni Matti, „doch nach ein paar Fahrten war klar, dass Rasmus mit dem besonders harten Odermatt-Modell nicht zurechtkommt. Es gibt eben nur wenige Rennfahrer, die so viel Power wie Marco haben, damit sie diesen Ski richtig durchdrücken können.“

Einzigartig ist auch Odermatts bodenständiger Lebensstil. Obwohl er sich in seiner Nidwaldner Heimat längst eine schmucke Wohnung mit spektakulärem Blick auf den Vierwaldstättersee leisten könnte, teilt er sich mit einem Kumpel eine WG. „Hier bezahle ich nur 400 Franken Miete im Monat“, erklärt der Mann, der in den letzten vier Monaten knapp 200.000 Schweizer Franken Preisgeld eingefahren hat. Verschleudert wird das Geld aber nicht: „Ich lege derzeit relativ viel Geld aufs Sparkonto, damit ich mir eines Tages ein richtig schönes Haus und ein ordentliches Motorboot leisten kann.“

Das Schiffspatent hat der Blondschopf bereits letzten Sommer gemeistert. Ursprünglich wollte er sich auch das Brevet fürs Gleitschirmfliegen aneignen. Doch diesen Plan hat Odermatt aufgegeben, nachdem sein Freund und Rennfahrerkollege Gian Luca Barandun im November 2018 bei einem Schulungsflug tödlich verunglückt war. „Baris Tod hat meine Einstellung verändert. Mir ist dadurch so richtig bewusst geworden, wie schnell alles vorbei sein kann. Deshalb habe ich mir etwa auch fest vorgenommen, während dem Autofahren nicht mehr zu telefonieren!“
Odermatt hat nach dem tragischen Ableben des Abfahrtstalents einen Aufkleber mit einem Adler und dem Namen Gian Luca Barandun auf seinem Rennhelm platziert.

Der tote Freund wird also gewissermaßen auch beim finalen Kugel-Krimi auf der Lenzerheide mitfahren. Und eventuell beim großen Triumph dabei sein. Wenn nicht: Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis Marco Odermatt den Weltcupgesamtsieg holt.

* Marcel W. Perrenist seit vielen Jahren Ski-Chefreporter des Schweizer „Blick“