Wenn er in der Früh aufwacht, ist Mario Mandzukic fassungslos. Wenn er abends schlafen geht, ist er schon wieder fassungslos. Oder noch immer. Bei der kroatischen Hymne, vor einem Spiel, nach einem Spiel, wenn eine Flanke kommt, wenn er sie verfehlt, wenn er den Ball im Tor versenkt: Immer ist Mandzukic völlig fassungslos, er schaut in jedem Augenblick seines Lebens, als hätte er gerade eine Erscheinung der ganz entsetzlichen Art, vielleicht den Krieg, vielleicht das Leben? Jedenfalls möchte man ihm ohne Unterlass zurufen: Um Himmels willen, Mario, was geht mit dir? Ist die wilde Jagd hinter dir? Du gehörst sofort zur Therapie!

Diese Augen! Tief drinnen, gewissermaßen in den Augenhöhlen verbarrikadiert wie die eines verschreckten, waidwunden Tieres! Sind die Augen nicht die Seele? Diese Augen schreien nach einem ganzen Kriseninterventionsteam!

Mein Kriseninterventionsteam ist Kroatien“, erklärt das Stürmertier, „meine Therapie ist die Tortherapie, die Torriechtherapie! Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar und für die Muskeln unstemmbar; ich rieche nur im Strafraum gut. Ich wittere Tore!“

Mario, geboren in Slavonski Brod in Ostkroatien, war fünf Jahre alt, als der Balkankrieg losbrach. Die Stadt wurde häufig angegriffen und erlitt schwere Schäden. Es starben 182 Menschen, darunter auch 27 Kinder. Mario war fassungslos. Er kam als Flüchtlingskind ins deutsche Ditzingen. Als 10-Jähriger musste er mit seinen Eltern Deutschland verlassen und (fassungslos) nach Kroatien zurückkehren.

Als 22-Jähriger Meister mit Dinamo Zagreb. Als 24-Jähriger zurück nach Deutschland, zum VfL Wolfsburg, mit 26 zu den Bayern, Champions-League-Sieger, Führungstor im Finale, Rauswurf, Mario fassungslos. Ohne Mandzukic kam Bayern nie mehr ins CL-Finale, der entsetzt dreinschauende Mario mit Juventus sehr wohl – und wieder ein Finaltor gegen Real. Der fassungslose Blick blieb in Mandzukic’ Gesicht einbetoniert; die Fassungslosigkeit begleitete ihn durch ganz Russland bis ins Finale …

Irgendwer wird auch Sonntag im Moskauer Luschniki-Stadion entsetzt dreinschauen: Vielleicht die französischen Verteidiger, wenn Mandzukic aus einer halben Chance ein ganzes Tor macht.

Er selbst aber sicher – auch dann, wenn er Weltmeister wird.