Russland hatte am Montag mehr als 80 Raketen auf Kiew und andere Städte in der Ukraine gefeuert. Die Angriffe töteten mindestens elf Menschen landesweit, mindestens 64 wurden verletzt, wie der ukrainische Zivilschutz mitteilte. Allein in Kiew kamen nach Angaben von Bürgermeister Witali Klitschko fünf Menschen ums Leben, 52 wurden verletzt. Viele Menschen waren gerade auf dem Weg zur Arbeit.

In Kiew schlugen die Geschoße laut Klitschko im Zentrum ein. In fast allen Landesteilen gab es Luftalarm. Die Strom- und Wasserversorgung brach mancherorts zusammen. Insgesamt habe Russland 83 Raketen abgefeuert, davon seien 43 abgefangen worden, teilte das ukrainische Verteidigungsministerium mit. Bei den Angriffen wurde auch das Hauptquartier der Beratermission der Europäischen Union in der Ukraine beschädigt.

Kremlchef Wladimir Putin nannte den Angriff eine Reaktion auf die "Terroranschläge" gegen russisches Gebiet. Ziele der Präzisionswaffen seien die Energieinfrastruktur, militärische Anlagen und das Fernmeldewesen gewesen, sagte Putin bei einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrates und drohte mit noch härterem Vorgehen. "Daran sollte niemand irgendwelche Zweifel haben."

Putin ordnete die Raketenangriffe an, nachdem am Samstag eine Explosion die 19 Kilometer lange Brücke erschüttert hatte, die Russland und die 2014 von Moskau annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim verbindet. Russland macht den ukrainischen Geheimdienst SBU für die Explosion verantwortlich.

Bestätigt hat der ukrainische Geheimdienst SBU eine Beteiligung nicht. Die SBU-Zentrale liegt im Zentrum Kiews. Moskau hatte wiederholt gedroht, Kommandostellen in der ukrainischen Hauptstadt zu beschießen, wenn der Beschuss russischen Gebiets nicht aufhöre.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wies dies scharf zurück. "Nein, Putin wurde nicht von der Krim-Brücke zum Raketenterror "provoziert"", teilte er per Twitter mit. "Russland hatte die Ukraine auch vor der Brücke ständig mit Raketen getroffen. Putin ist verzweifelt wegen der Niederlagen auf dem Schlachtfeld und versucht mit Raketenterror, das Kriegstempo zu seinen Gunsten zu ändern."

Die Brücke zur Krim ist als Nachschubroute für den russischen Angriff wichtig. Das Bauwerk hat zudem einen hohen symbolischen Wert für die Führung in Moskau. Putin hatte den Angriff auf die Ukraine am 24. Februar befohlen. Der Krieg dauert nun bald acht Monate.

Russland töte "unsere Leute, die zu Hause in Saporischschja schlafen. Sie töten Menschen, die in Dnipro und Kiew zur Arbeit gehen", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die Energieinfrastruktur der Ukraine sei ins Visier genommen worden, betonte Selenskyj in einer Videobotschaft, die ihn vor seinem Präsidialamt in Kiew zeigt. "Das zweite Ziel sind die Menschen. Dieser Zeitpunkt und diese Ziele wurden speziell ausgewählt, um so viel Schaden wie möglich anzurichten", warft er der russischen Führung vor.

Der Militärexperte Franz-Stefan Gady vom Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS) in London äußerte in der ORF-ZiB 2 die Ansicht, dass die russischen Angriffe lange geplant und keine reine Racheaktion gewesen seien. Es handle sich wohl um eine Zermürbungsstrategie, welche die ukrainische Bevölkerung belasten solle, weil die russische Armee auf dem Schlachtfeld nicht die erhofften erfolge einfahren könne. Es handle sich um eine "klare Terrorstrategie" Russlands, so der Militäranalyst. Für die Explosion auf der Krim-Brücke sei mit großer Wahrscheinlichkeit die Ukraine verantwortlich, mutmaßte Gady. Eben weil sie für den Nachschub für die Krim sehr wichtig sei.

International wurden die russischen Raketenangriffe scharf kritisiert. US-Präsident Joe Biden verurteilte sie "aufs Schärfste". Sie zeigten einmal mehr "die äußerste Brutalität des illegalen Krieges" von Kremlchef Putin gegen das ukrainische Volk. "Wir fordern Russland erneut auf, diese unprovozierte Aggression sofort zu beenden und seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen", so Biden. In einem Telefonat sicherte Biden Selenskyj weitere Militärhilfe "einschließlich fortschrittlicher Luftabwehrsysteme" zu.

US-Außenminister Antony Blinken versicherte seinem ukrainischen Amtskollegen Kuleba in einem Telefonat die "unerschütterliche wirtschaftliche, humanitäre und sicherheitspolitische Hilfe" der US-Regierung.

Die britische Premierministerin Liz Truss sicherte Selenskyj weitere Rückendeckung zu. Truss sehe in den Angriffen "ein Zeichen des ukrainischen Erfolgs und der zunehmenden Verzweiflung" des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sagte ein britischer Regierungssprecher am Montag nach einem Telefonat der Premierministerin mit dem ukrainischen Präsidenten.

Truss habe die Angriffe scharf verurteilt und betont, dass Putins "zerstörerische Rhetorik und sein Verhalten" nichts an Großbritanniens Entschluss ändern würden, fest an der Seite der Ukraine zu stehen, hieß es in London. Der britische Außenminister James Cleverly schrieb auf Twitter: "Dies ist eine Demonstration der Schwäche von Putin, nicht der Stärke",

Deutschlands Kanzler Olaf Scholz (SPD) telefonierte nach dem Angriff mit Selenskyj und sicherte die Solidarität Deutschlands und der anderen G7-Staaten zu. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Angriffe auf zivile Ziele und sicherte der Ukraine weiter Unterstützung zu.

"Dies ist keine Vergeltung, dies ist Terrorismus", erklärte der niederländische Premier Mark Rutte. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schrieb auf Twitter: "Putins Russland hat der Welt erneut gezeigt, wofür es steht: Brutalität und Terror."

"Wir hoffen, dass sich die Lage bald deeskaliert", sagte Außenamtssprecherin Mao Ning in Peking. Indien reagierte "zutiefst besorgt" und rief zu einem sofortigen Ende der Kampfhandlungen auf. Man biete Unterstützung für Deeskalationsbemühungen an, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Neu Delhi. China und Indien verhalten sich beim russischen Angriffskrieg weitgehend neutral, da sie enge Beziehungen zum Westen wie zu Russland haben.

Kritik kam auch aus Österreich. Putin drehe die Eskalationsspirale weiter, twitterte Kanzler Karl Nehammer (ÖVP). In dieser "brandgefährlichen Situation" sei es "wichtig, wieder Schritte in Richtung Deeskalation" zu setzen. "Auch wenn es derzeit aussichtslos scheint: Das Ziel muss sein, an den Verhandlungstisch zurückzukehren."

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hatte zuvor auf Twitter geschrieben: "Der russische Beschuss von ziviler Infrastruktur in Kiew und anderen Städten der Ukraine ist abscheulich und feig. Diese Attacken müssen sofort aufhören." Der Kreml wies dies umgehend zurück: Österreich habe "wohl kaum das Recht", von Russland zu verlangen, den Raketenbeschuss der Ukraine zu beenden, erklärte Putins Sprecher Dmitri Peskow.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sieht die jüngsten russischen Angriffe in der Ukraine als "Terror" gegen die Zivilbevölkerung. "Diese abscheulichen militärischen Aktionen bedeuten die völlige Missachtung des Völkerrechts und des Kriegsvölkerrechts", hieß es am Montagabend in einer gemeinsamen Stellungnahme von OSZE-Führungspersönlichkeiten.