Was Alice Babidge auf die Bühne des Akademietheaters gebaut hat, ist eindrucksvoll. Die Ausstatterin lässt uns wie in ein Puppenhaus in drei Stockwerke des Wiener Mittelklassehotels "Hotels Strindberg" schauen. Retro-Charme auf jeweils zwei Zimmern pro Etage, plus Stiegenhaus. Die vierte Wand zum Zuschauer existiert - als Glaswand. Der Zuschauer wird zum Voyeur. Was wir über Mikrofone von den parallel ablaufenden Handlungen mitbekommen, wird mittels Tonmischpult gesteuert. Schöner Trick: In den zwei Pausen fährt die aufgerissene Hotelfront scheinbar einmal ein Stockwerk höher, einmal eines tiefer. So bekommt man im Schlussakt auch Frühstücksraum und Rezeption zu Gesicht.
Im Vorjahr hat der in Wien lebende Australier Simon Stone, Shooting-Star des europäischen Theaters, für die Toneelgroep Amsterdam ein "Ibsen House" realisiert, ein dreieinhalbstündiges, auf Henrik Ibsens Stücken basierendes Familiendrama. Sein "Hotel Strindberg" folgt offenbar demselben Prinzip. Es holt sich Motive aus "Gespenstersonate", "Der Pelikan", "Der Vater", "Mit dem Feuer spielen", "Gläubiger", "Nach Damaskus" und "Die Stärkere" und mischt sie zu einer virtuos verknüpften, in vielfältigen Handlungssträngen erzählten Geschichte über die Selbsterniedrigung des Menschen. Dem friedlichen, glücklichen Zusammenleben steht eigentlich nichts im Wege außer Eitelkeit und Egoismus. Die sind freilich unausrottbarer Teil der menschlichen Natur.
Strindbergs Kammerspiele sind stets Ausleuchtungen düsterer, gespenstischer Räume, in deren finsteren Ecken sich allerlei Unrat angesammelt hat, doch deren Bewohner sich ängstlich gegen Frischluft und Großputz wehren. Fast immer findet sich beim Ausmisten eine sorgsam verborgene Leiche aus der Vergangenheit, deren Gift die Gegenwart nachhaltig verpestet. Dies in das Setting eines schon etwas heruntergekommenen Hotels zu verwandeln, ist eine schöne Idee. Noch erfreulicher: Im (maximal) Drei-Sterne-Hotel findet Schauspielkunst auf Fünf-Sterne-Niveau statt.
Vom Versuch, die verschiedenen Figuren und Geschichten einzelnen Strindberg-Stücke zuzuordnen, muss man sich bald verabschieden. Denn auch so ist es schwierig genug, den Überblick über Verläufe und Zusammenhänge zu bewahren, zumal das um ein paar Statisten ergänzte neunköpfige Ensemble jeweils mehrere Rollen zu spielen hat. Im finalen dritten Akt mischt Simon Stone, der vor beiden Pausen veritable Cliffhanger eingebaut hat, obendrein Identitäten und Zeitebenen lustvoll durcheinander. Da wird der einmal mehr herausragende Martin Wuttke, der an der Seite der kongenialen Caroline Peters einen richtig widerlichen, dauergrantelnden Drehbuchautor in Schaffenskrise und latenter Neigung zum Gewaltausbruch in die Suite setzt, von seiner Umgebung plötzlich als alternder Rockstar wahrgenommen und versteht die Welt nicht mehr. Das hübsche Groupie (Aenne Schwarz) lässt er sich freilich gerne gefallen, und einen auf Tom Waits zu machen schüttelt der große Schauspieler, der zudem mit Peters berührend ein altes Ehepaar spielt, jederzeit locker aus dem Ärmel.
Es sind so viele Geschichten, die an diesem Abend - wie immer bei Stones Arbeiten in seinen eigenen Worten und mit heutigem Vokabular, von Electronic Banking bis Tinder - erzählt werden, und selten gehen sie gut aus. Eine verzweifelte, schwangere junge Frau (toll: Franziska Hackl) wartet mit Champagner und Pizza auf ihren verheirateten Liebhaber, dem sie die Mailbox vollquatscht und schließlich von dessen Gattin (Barbara Horvath) gefunden wird, nachdem sie den Inhalt einer ganzen Pillendose geschluckt hat. Ein wehleidiger Dramatiker (Michael Wächter) bringt seine Frau um, als sie die Scheidungspapiere zum Unterschreiben vorbeibringt. Ein junges Paar scheitert an seiner betont offenen Beziehung, deren Kräfteverhältnis sich seit der Ankunft eines Babys verändert hat. Eine skrupellose Geschäftsfrau betrügt ihre Tochter mit ihrem Schwiegersohn.
In wechselnden Rollen bewähren sich auch Max Rothbart und Simon Zagermann, Roland Koch darf zudem als geheimnisvoller, redseliger Concierge über die Stiegen huschen. Eine Live-Band hat ihren Probenraum in einem Hotelzimmer bezogen und sorgt immer wieder für einen leisen Soundteppich. Ja, und Männer im Bademantel dürfen in Zeiten wie diesen natürlich nicht fehlen. Mit der Aufarbeitung der Geschehnisse im "Hotel Strindberg" hätte die Justiz wohl noch länger Arbeit. Die Theaterbesucher jedoch spendeten vor dem Auschecken langen Applaus. Das Hotelmanagement darf sich auf gute Bewertungen freuen.