Überrascht Sie das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs?

Es überrascht mich insofern nicht, weil es dem Mainstream der Autonomie und Selbstbestimmung als höchste Werte folgt. Mich wundert allerdings sehr, dass der Verfassungsgerichtshof offenbar fatale Entwicklungen in jenen Ländern nicht berücksichtigt hat, in denen die Beihilfe zum Suizid straffrei gestellt ist. Überall zeigt sich, dass die als Ausnahme gedachte Beihilfe zum Suizid mit der Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung dazu geführt hat, dass sich insbesondere behinderte Menschen dafür rechtfertigen müssen, dass sie weiterleben wollen, obwohl sie anderen „so sehr zur Last fallen“.

Was halten Sie davon?

Das VfGH-Erkenntnis ist sehr differenziert. Man sieht das Ringen der Richter und Richterinnen, die Tür doch nicht zu weit aufzumachen. Das ist grundsätzlich gut. Aber ich finde es ausgesprochen problematisch, dass der VfGH argumentiert, dass es keinen Unterschied zwischen dem freien Willen, eine lebensrettende Maßnahme im Rahmen einer Patientenverfügung abzulehnen, und dem freien Entschluss, eine Beihilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen, gibt. Das ist schlichtweg falsch, denn auch und gerade in der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts macht es sehr wohl einen Unterschied, ob man den Menschen sterben lässt oder den Tod bewusst herbeiführt.

Was werden die Folgen sein?

Die Erfahrungen in den anderen Ländern zeigen, dass die noch so vorsichtig geöffnete Tür sich unweigerlich weiter öffnet und dazu führen wird, dass die Beihilfe zum Suizid völlig unabhängig von einem Gesundheitszustand und auch geschäftsmäßig zu einer Tötungspraxis wird. Das hat natürlich auch Folgen auf die Grundstimmung in der Bevölkerung, und führt immer mehr dazu, dass die Selbstbestimmung in dieser Frage immer mehr ausgehöhlt wird. Für mich ist diese Entwicklung ein klassischer Anwendungsfall für die Aussage des ehemaligen Richters des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe Böckenförde, dass „nämlich der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht mehr garantieren kann.“

Was erwarten Sie sich jetzt von der Politik?

Sehr ausführlich stellt der VfGH dar, wie groß und vielfältig der Einfluss auf die Selbstbestimmung des Menschen ist.  Er benennt nicht nur familiäre und soziale Einflüsse, er erwähnt auch die Hilfsbedürftigkeit, den eingeschränkten Bewegungsspielraum und sogar auch die ökonomischen Umstände. Der Gesetzgeber habe daher Maßnahmen zur Verhinderung von „Missbrauch vorzusehen, damit die betroffenen Personen ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fassen.“ Und dann führt er weiter aus: „Es sind daher gesetzgeberische und sonstige staatliche Maßnahmen erforderlich, um den Unterschieden in den Lebensbedingungen der Betroffenen entgegen zu wirken und allen palliativmedizinische Versorgung zu ermöglichen“. Da zweifle ich, dass die Frist des VfGH für eine Novelle des StGB bis zum 31.12.2021 ausreichen wird.