Haben Sie Kanzler Sebastian Kurz schon beglückwünscht, dass er die FPÖ aus der Regierung geworfen hat, und die Grünen nun an Bord sind?

JEAN ASSELBORN: Ich mische mich nicht in die österreichische Innenpolitik ein.

Sie haben doch Österreichs Europapolitik in den letzten Jahren immer scharf kritisiert. Sie werden doch eine Meinung haben.

ASSELBORN: Wir hatten in Europa die Hoffnung, dass sich mit dem Eintritt der Grünen bei der Migration etwas ändern würde. Konkret dachten wir, dass Österreich ein paar Kinder aus Lesbos aufnehmen würde. Das war nicht der Fall. Die europäischen Grünen zeigen in der Migrationsfrage Herz, das ist bei den österreichischen Grünen leider noch nicht der Fall.

Sind Sie enttäuscht?

ASSELBORN: Ich sehe keinen Kurswechsel. Ich war auch über die zögerliche Haltung Österreich bei der Verurteilung des Annexionsplans für den Nahen Osten erstaunt.

Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe für den bemerkenswerten Schritt, dass ausgerechnet Österreich und Ungarn im Frühjahr aus der EU-Phalanx ausgebrochen sind und von einer Verurteilung des US-Nahostplans Abstand genommen haben? Die Anbiederung an Trump?

ASSELBORN: Das weiß ich nicht. Wenn man in der Frage, ob eine Annexion gegen Völkerrecht verstößt, keine klare Linie hat, ist es für eine europäische Regierung schon sehr erstaunlich.

Sollte Israel wie vorgesehen in diesen Tagen das Westjordanland annektieren, wie sollte Europa reagieren? Die Beziehungen auf Eis legen? Die Botschafter einbestellen?

ASSELBORN: Es gibt selbst in Israel Bedenken gegen den Schritt, man darf aber auch nicht naiv sein. Vielleicht macht es Israel in Schritten. Als US-Außenminister Pompeo meinte, die Siedlungen in Israel verstoßen nicht gegen internationales Recht, wusste ich, dass das kommen wird. Ich verstehe es nicht. Israel braucht doch nicht die Annexion für seine Sicherheit. Wir müssen an die Menschen denken, die da leben. Ich fürchte, die Palästinenser werden nicht die israelische Staatsbürgerschaft nehmen. Entweder werden sie vertrieben, oder man lebt in einem Apartheid-System.

Wie sollte die EU reagieren, sollte Israel große Teile des Westjordanland annektieren?

ASSELBORN: 25 von 27 EU-Regierungen haben im Mai schon festgehalten, dass die Annexion gegen internationales Recht verstößt. Sanktionen brauchen die Einstimmigkeit, das ist schwierig. Ich wäre dafür, dass so viele europäischen Staaten wie möglich ein symbolisches Zeichen setzen und den Palästinensern die Möglichkeit eines eigenen Staates zugestehen sollte. Ein solcher Schritt wäre nicht gegen Israel gerichtet.

Was hieße das völkerrechtlich?

ASSELBORN: Wir sollten formell anerkennen, dass die Palästinenser ein Recht auf einen eigenen Staat haben, wie jedes andere Volk auch. Israel ist ein Leuchtturm der Demokratie in der Region, deshalb ist es mir ein Rätsel, warum Israel nicht versteht, dass eine Zweistaatenlösung die einzige Chance ist, um in Frieden zu leben.

Sie hoffen, dass Biden die Wahl gewinnt?

ASSELBORN: Klar.

Zurück zur Migrationsfrage: Warum geißeln Sie permanent Österreich? Österreich hat 2015 mehr als 100.000 Flüchtlinge aufgenommen, da können wenige andere Länder mithalten.

ASSELBORN: Wenn Merkel 2015 die Grenzen geschlossen hätte, wäre wegen der gewaltigen Migrationsströme am Balkan ein Krieg ausgebrochen. Ich weiß nicht, was es für Österreich bedeutet hätte. Österreich hat damals sehr viel gemacht. Nur, wir haben noch immer viele Menschen, die über das Mittelmeer flüchten. In Österreich scheint ja das Argument, man könne die Menschen nicht aufnehmen, weil das einen Pull-Effekt nach sich zieht, eine Staatsdoktrin zu sein. Das ist falsch, denn so ist man völlig unsolidarisch gegenüber Italien, Spanien und Malta, wo die Flüchtlinge landen.

Kurz meint, die Leute sollte man wieder zurückschicken?

ASSELBORN: Kurz wollte ja einmal eine Insel im Mittelmeer mieten, das ist das australische Modell. Österreich hat 2015 viel gemacht, aber das Leben geht weiter.

Zu den gewaltigen Corona-Hilfspaketen, die im Juli beim EUGipfel beschlossen werden: Ist es antieuropäisch, wenn Nettozahler wie Österreich eine gewisse Skepsis an den Tag legen?

ASSELBORN: Die Österreicher sind  ja nicht skeptisch. Sie wollen nur, dass man Kredite gewährt, keine Subventionen. Das ist irreführend. Italien und Spanier haben nicht die Kraft, um mit Krediten aus der Krise herauszukommen. Was ich auch nicht verstehe: Warum gründet man den Verein „Die frugalen Vier“, wenn man weiß, dass er keine lange Lebensdauer hat? Da sich Merkel und Macron einig sind, wird das Paket das Licht der Welt erblicken. Zielführender wäre doch die Debatte: Welche Kriterien bauen wir auf, damit das Geld sinnvoll ausgegeben wird? Ich bin für jede sinnvolle Diskussion, ich bin aber dagegen, dass man sich hinstellt und sagt: Wir geben Kredite, die wir dann in zwei Jahren zurückbekommen. Die frugalen Vier führen die Bevölkerung in die Irre.

Ist es antieuropäisch, wenn man aufs Geld schaut?

ASSELBORN: Es ist antieuropäisch, wenn man den Menschen einredet: Wir geben Kredite, die die Länder in zwei Jahren zurückzahlen, obwohl man genau weiß, dass das nie der Fall sein wird.

Zwei der vier Frugalen sind Ihre Parteifreunde. Die Sozialdemokratie ist also auch keine Feuermauer mehr. Sind die auch antieuropäisch?

ASSELBORN: Ja, so ist es. Wenn man den Menschen vorgaukelt, dass man das mit Krediten bewältigen will, sagt man nicht die Wahrheit.

Wer Europa kennt, weiß, dass es am Ende des Tages eine Lösung geben wird?

ASSELBORN: Ich höre, dass Österreich auf Zeit spielt und eine Lösung im Herbst anstrebt. Das verstehe ich nicht. Es kann doch nicht im Interesse Österreichs sein, wenn in Italien die Wirtschaft am Boden ist und die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent liegt. Wir können doch nicht in Italien nur in die Ferien gehen, und der Rest ist uns egal. Es soll alles bis ins Detail diskutiert werden, aber es sollte eine Lösung vor den Sommerferien geben. Das wäre europäisch.