Herr Bundespräsident Van der Bellen, nächsten Sonntag sind es drei Jahre, dass Sie im Amt sind. Haben Sie mitgezählt, wie viele Minister Sie in der Zeit angelobt haben?

ALEXANDER VAN DER BELLEN: Wieviele?

Ich habe 60 gezählt.

VAN DER BELLEN: Ich bin unschuldig (lacht).

Die Regierung Bierlein, die Sie wiederholt gelobt haben, war medial aber auch politisch sehr zurückhaltend. War das Ihr Auftrag, war es in Ihrem Sinne?

VAN DER BELLEN: Ich glaube, ich habe vor dem Sommer einen Fehler gemacht, indem ich sie als Übergangsregierung bezeichnet habe. Das war irreführend, denn die Regierung Bierlein war eine Bundesregierung mit allen Rechten und Pflichten, allerdings ohne automatische Mehrheit im Parlament.

War es ihr Auftrag, möglichst keine Entscheidungen zu treffen?

VAN DER BELLEN: Die notwendigen Entscheidungen hat diese Regierung getroffen, etwa die Bestellung des EU-Kommissars. Aber wir haben uns darauf verständigt, die Geschäfte gut zu verwalten und Kontroversen nach Möglichkeit zu vermeiden. Ich wollte diese Regierung und ihre Minister vor einem neuen Misstrauensantrag bewahren. Ich gebe zu, man hätte das vielleicht nach drei Monaten überdenken können und sagen, probieren wir dieses oder jenes. Kriegen wir eine Mehrheit im Parlament, ist es gut, kriegen wir keine, kann man auch nichts machen.

Dass sie medial so zurückhaltend waren, war das vereinbart?

VAN DER BELLEN: Ja.

Was sagt das über das Politikverständnis der Österreicher aus, dass eine Regierung, die eigentlich nicht regiert und auch sehr wenig sagt, so beliebt ist?

VAN DER BELLEN: Man kann das positiv und negativ sehen. Auf der negativen Seite: Wir sollten nicht so streitfaul sein. Auseinandersetzungen sind wichtig in der Politik. Das muss man nicht gleich dramatisieren. Es gibt einfach unterschiedliche Ansichten und Argumente, wo man sich nicht zu hundert Prozent sicher ist, wer jetzt recht hat. Insofern ist die Sehnsucht nach Ruhe da oben problematisch.

Was sehen Sie Positives daran?

VAN DER BELLEN: Dass man bei dieser Regierung den Eindruck hatte, sie ist fachkompetent und sie kennt ihre politischen Schranken – vielleicht zu sehr.

Wie unterschied sich der Weg zur jetzigen Regierung von dem zu Türkis-Blau?

VAN DER BELLEN: Der wichtigste Unterschied, ganz handfest und trivial: Bei den genannten Personen sah ich keinen Anlass, rechtzeitig Einwände zu signalisieren, falls der oder die als Minister vorgeschlagen wird.

Die Kommunikation dieser Regierung ist total anders als die von Türkis-Blau – weniger kompakt, widersprüchlicher. Das ist einerseits erfrischend, könnte aber auch zu Sprengstoff für die Koalition werden?

VAN DER BELLEN: Warum machen wir uns täglich solche Sorgen, was alles schiefgehen kann? Jetzt soll die Regierung einmal daran arbeiten, dass es positiv wird. Ich finde es mittlerweile ein uns alle ansteckendes österreichisches Laster, immer zuerst die Probleme zu sehen und nicht die Opportunities. Ein junger Israeli aus der Start-up-Szene hat mir letztes Jahr gesagt: „We don’t see problems, we don’t see challenges, we see opportunities“. Da habe ich mir gedacht, sehr interessant, diese Lebenseinstellung.

Die Grünen haben die Inszenierung der Regierung Kurz I kritisiert und jetzt machen sie selber mit. Sehen Sie Inszenierung als professionelle Politikvermittlung oder als Show?

VAN DER BELLEN: Ich neige zur ersten Interpretation. Das gehört einfach dazu und das muss man auch lernen und üben. Ein Politiker, nolens volens, übt das. Manche beherrschen das vorzüglich und manche haben immer ihre Probleme damit.

Apropos Inszenierung: Darf ein grüner Vizekanzler Fleischlaberl bei McDonald’s essen?

VAN DER BELLEN: Erstens, warum fragen Sie mich das? Ich bin der Bundespräsident. Zweitens, wenn Sie mich persönlich fragen, würde ich sagen, selbstverständlich darf er das.

Sie haben gesagt, dass Sie die von der Regierung geplante „Sicherungshaft“ juristisch prüfen lassen wollen. Haben Sie das inzwischen getan?

VAN DER BELLEN: Ich habe mich mit meinen Verfassungsjuristen unterhalten und die sehen Riesenprobleme. Wir sehen kaum eine Lösung innerhalb der derzeit geltenden Bundesverfassung.

Ohne Verfassungsänderung geht es nicht?

VAN DER BELLEN: Es gibt die Strafhaft, die Untersuchungshaft und es gibt die Schubhaft, aber ein viertes, ohne Verurteilung und nachgewiesene Straftat, gibt es nicht. Das geht immerhin zurück auf 1867, auf die Verkündung der Grund- und Freiheitsrechte – ein extrem heikles Gebiet.

Sie würden sagen „Finger weg“?

VAN DER BELLEN: Ich würde persönlich sagen, Finger weg, aber wir werden sehen, ob und was die Regierung vorschlägt. Das wird dann wieder zu prüfen sein.

Diese Regierung verspricht, den Klimawandel zu bekämpfen. Sehen Sie die Gefahr der Enttäuschung, wenn sich trotz manch kostspieliger Bemühungen nicht gleich etwas sichtbar ändert?

VAN DER BELLEN: Die Gefahr, die Sie beschreiben, ist durchaus real. Schon deswegen, weil die Klimakrise sich über Jahrzehnte entwickelt hat und nicht von heute auf morgen. Selbst wenn wir morgen alle Treibhausgasemissionen weltweit einstellen würden, bliebe die Konzentration der Gase in der Atmosphäre ja bis auf Weiteres. Diese Art von Veränderungen erleben wir so oder so. Wir wissen nur gleichzeitig: Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann steuern wir irreversiblen Prozessen entgegen, und diese gilt es zu vermeiden. Wenn jemand glaubt, ab morgen nur mehr Elektroautos zu fahren würde der Klimakrise unmittelbar Einhalt gebieten, dem muss ich leider sagen, so sind die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge leider nicht. Deswegen hätten wir schon viel früher anfangen sollen, aber es ist immer noch möglich, doch die Zeit drängt.

Sie haben bei der Angelobung gesagt, „Macht braucht Kontrolle, Macht ist Mittel und nicht Zweck.“ Wem haben Sie das ins Stammbuch geschrieben?

VAN DER BELLEN: Uns allen. Ende Mai 2019 habe ich Macht ausgeübt, Kraft der Möglichkeiten, die mir die Bundesverfassung bietet. Gleichzeitig ist es gut, dass die Macht des Bundespräsidenten sehr beschränkt ist, eingebettet in ein System von „checks und balances“. Das gilt für jeden anderen Politiker auch.

Sie sind jetzt drei Jahre im Amt, gibt es etwas, was Sie an den Pflichten und Befugnissen des Präsidenten ändern würden?

VAN DER BELLEN: Wir haben uns oft gefragt, ob es nicht günstig wäre, den Verfassungsgerichtshof vorab zu fragen, ob eine Maßnahme, ein Gesetz verfassungskonform ist. Aber das geht nicht, wenn ich mir anschaue wie lange es dauert bis es zu einer Entscheidung kommt – sechs bis neun Monate. Und so lange steht das still?

Was fällt Ihnen noch ein?

VAN DER BELLEN: Es gibt Skurrilitäten. Ein Minister macht mir einen Vorschlag bei bestimmten Personalentscheidungen, aber nur, wenn es um Beamte geht. Wenn die gleiche Funktion durch einen Vertragsbediensteten erfüllt wird, braucht er mich nicht zu fragen.

Sie würden am liebsten gar nicht gefragt werden oder auch beim Vertragsbediensteten?

VAN DER BELLEN: Ich würde schon gerne gefragt werden, aus Erfahrung. Vor drei Jahren hätte ich das vielleicht anders beantwortet.

Sie haben in Ihrer Neujahrsansprache von den Sternen gesprochen, auf die wir schauen sollten, weniger auf die Finsternis der Nacht. Woran denken Sie fürs kommende Jahr?

VAN DER BELLEN: Am Ende einer Chinareise habe ich den mitreisenden Journalisten gesagt: Die Chinesen – und es gibt 150 Mal so viele Chinesen wie Österreicher – werden demnächst vom BIP her gesehen die höchste Wirtschaftsmacht der Welt sein, und nehmen uns trotzdem ernst. Sie nehmen uns kulturell ernst und auch unsere Unternehmen, sonst hätten sie uns nicht so freundlich empfangen. Nehmen wir uns selbst auch einmal ein bisschen ernster und seien wir selbstbewusster – ohne arrogant zu werden.