Reinhold Mitterlehner hat am Mittwoch seinen großen Auftritt. Um elf Uhr am Vormittag will er seine Autobiografie "Haltung" vorstellen. Das Werk will er nicht als Abrechnung mit seinem - erfolgreichen - Nachfolger Sebastian Kurz verstanden wissen. Das Buch gleicht aber einer Abrechnung.

Wir bringen die besten Passagen aus dem 200-seitigen Werk:

Nach dem Rückzug von Michael Spindelegger im Sommer 2014 wurde Reinhold Mitterlehner als neuer ÖVP-Chef eingesetzt. Sebastian Kurz gehörte damals bereits der Regierung an. Dass er das Potenzial für höhere Weihen hatten, war damals in den ÖVP-Zirkeln unstrittig.

„Ich sagte Kurz also, dass ich vorhatte, meine neue Aufgabe bis zum Jahr 2018 mit vollem Elan auszufüllen und wir dann 2018 beurteilen würden, wer von uns beiden besser positioniert sei, wenn es um die Rolle des Spitzenkandidaten ging. Kurz ging jedoch gar nicht auf diese Frage ein und wollte das Thema komplett offenlassen.“

„Unser damaliges Verhältnis lässt sich so beschreiben: Wir hatten aus meiner Sicht weder ein Sympathie- noch ein Akzeptanzproblem."

Die ersten Hinweise, dass Kurz eine eigene Agenda verfolgt, hat Mitterlehner im Umfeld des traditionellen ORF-Sommergesprächs im August 2015:

„Mich informierte Sebastian Kurz am Freitagabend telefonisch darüber, dass er diesen Fünf-Punkte-Plan präsentieren würde. Er meinte, er bekäme Druck von den Medien, weil er in der Flüchtlingsfrage zu wenig präsent sei, und müsse deswegen jetzt endlich eine Initiative setzen. Was wie eine vorherige Information oder sogar thematische Abstimmung klang, war letztlich ein Vor-vollendete-Tatsachen-Stellen, weil mir schon die Zeitungsabdrucke vom nächsten Tag mit dieser Initiative vorlagen. Natürlich unterstützte ich dann den nun selbstverständlich als mit mir abgesprochen dargestellten Plan in meinem ORF-Sommergespräch. Weder das Thema noch der Zeitpunkt waren für eine Auseinandersetzung geeignet.“

Mitterlehner räumt ein, dass jeder Obmannwechsel in der ÖVP ruppig über die Bühne geht, weil niemand rechtzeitig einen Nachfolger in Stellung bringt:

„Es gibt wenige Beispiele dafür, dass ein amtierender Parteichef einen Nachfolger rechtzeitig aufgebaut hat“

Im Frühjahr 2016 war klar, dass die Tage von Werner Faymann als Kanzler und SPÖ-Chef gezählt waren. Als dann im ersten Durchgang der Präsidentenwahlen Rudolf Hundstorfer abgeschlagen auf Platz fünf landete (nach Van der Bellen, Hofer, Griss, Khol), waren die Stunden von Faymann gezählt:

„Es muss sich angesichts dieser Entwicklung fast so etwas wie Panik im Kurz-Team verbreitet haben, denn plötzlich vergaß man jede Vorsicht und wagte sich ohne Rücksicht auf Verluste aus der Deckung. Man beauftragte im März 2016 eine Umfrage bei Meinungsforscher Franz Sommer, um die Wahlchancen bei allfälligen Nationalratswahlen unter einem Spitzenkandidaten Kurz auszuloten. Die Studie ergab, dass die ÖVP mit Kurz um 15 Prozent besser abschneiden würde. Mit diesem brisanten Ergebnis klapperte Kurz die Bünde und Parteiobmänner ab, um Unterstützung für Neuwahlen zu suchen."

Am Tag nach dem Wechsel an der Spitze der SPÖ bestellte Mitterlehner Kurz zu sich ins Büro. Erstmals sprach man sich in schonungsloser Offenheit aus:

„Ich bestellte ihn für den nächsten Tag zu mir. Offensichtlich beseelt vom Ziel, nicht zuzulassen, dass Kern sich etablierte, war er erstaunlich offen. Er stritt die Meinungsumfrage gar nicht ab. Auch nicht, dass er im Vorfeld Gespräche mit einigen Landeshauptleuten geführt hatte. Er sagte, er sei darum gebeten worden. Von wem genau, sagte er jedoch nicht. … Im Endeffekt bestätigte er klar, dass es sein Ziel sei, die Koalition zu sprengen. Die Rolle des Sprengmeisters solle ich übernehmen, weil ich eine gewisse Glaubwürdigkeit hätte. Es könne jetzt nicht so weitergehen und es bräuchte eine Neuformierung der Kräfte.“

Und weiter:

„Kurz hatte das Grand Design im Mai 2016 schon im Kopf, das er dann im Jahr 2017 auch umsetzte. Ich sollte für ihn die Koalition aufkündigen und den Schwarzen Peter nehmen, damit er unbefleckt in Neuwahlen gehen könne. Ich fragte ihn natürlich, wo er meine Rolle in der Zukunft sähe. Das hätte er sich noch nicht überlegt, wich er aus. ….(Kurz brachte das Amt des Nationalratspräsidenten ins Spiel)... Ich verwarf das nicht von vornherein. Nach kurzer Zeit rief ich ihn jedoch an und sagte ihm sinngemäß: »Wenn ich den Koalitionsbruch provoziere und es geht schief, hält mich jeder in der Partei für einen Wahnsinnigen. Wenn wir die Wahlen verlieren oder wieder Zweiter werden, die Konstellation also gleich bleibt oder wir gar nicht mehr in der Regierung sind, genauso. Gewinnst du tatsächlich und ist richtig, was du sagst, dann bleibt über, dass du der Sieger bist, der Mitterlehner aber der Sprengmeister war. Also was soll das für eine Option sein?«

Kurz sagte, er verstünde das und akzeptiere es .Aber ich sei ab jetzt mit meinen Problemen alleine und müsse die volle Verantwortung tragen. Er würde die Rolle des Außenministers wahrnehmen und sonst nichts. Ich antwortete, das sei auch meine Aufgabe als Vizekanzler und Parteiobmann, aber ich würde mir die entsprechende Unterstützung meiner Minister – auch seine – erwarten. Das war der endgültige Bruch....

Dass die eigene Arbeit jedoch schon in der Entstehung torpediert wird, damit Erfolg nicht einmal ansatzweise entstehen kann, war ein Novum.“

Im Herbst 2016 sprach sich herum, dass die Vorbereitungen für eine allfällige Übernahme der ÖVP längst im Gang waren.

„Natürlich kannte ich im zweiten Halbjahr 2016 den hohen Grad und Umfang der Vorbereitungen hinter meinem Rücken nicht. Dennoch hatte sich im Laufe des Sommers 2016 natürlich auch zu mir durchgesprochen, dass der potentielle nächste ÖVP-Spitzenkandidat schon in halb Österreich Meetings abhielt, um sein Programm vorzustellen und Spenden zu sammeln.....

Im August 2016 rief mich ein Teilnehmer bei einer Schlossfeier in Reifnitz in Kärnten an und erzählte mir, er und andere seien als Spender für einen Kurz-Wahlkampf angefragt worden. Einmal informierte mich ein Landeshauptmann, ferner Unterstützer, einmal sogar ein Spender, der immerhin meinte, er hätte mir ja sonst auch für meinen Wahlkampf gespendet. Aus Oberösterreich wurde ich gleich mehrfach angesprochen, inklusive vom einladenden Bankdirektor auf Sponsoren-Rallyes von Kurz. Das gleiche geschah auf medialer Ebene, und viele mir freundlich gestimmte oder einfach nur objektive Journalisten fragten mich, ob ich denn die ziemlich offen geführten Vorbereitungen in Richtung Umsturz nicht mitbekommen hätte.“

Mitterlehner weiß, dass seine Tage  gezählt sind:

„Ich fühlte mich schon damals als Platzhalter, den man werken ließ, bis man die Stunde der Übernahme für günstig hielt. Dass Kern so schnell auftauchte, verkürzte diese Phase.“

Über die Rolle der mächtigen ÖVP-Bünde- und Landeschefs:

„Die meisten ließen die Sache einfach laufen, taten aktiv nichts dafür, aber auch nichts dagegen und wollten weder illoyal sein, noch es sich mit dem zukünftigen »Trumpfass« (Copyright Hermann Schützenhöfer, steirischer Landeshauptmann) verscherzen.“

Im September 2016 sprach Mitterlehner den schwelenden Konflikt im ÖVP-Vorstand an:

„Beim ÖVP-Parteivorstand am 4. September sprach ich dann das erste und einzige Mal offen in großer Runde das Verhalten von Kurz an und stellte klar, dass das so nicht ginge, weil es mich desavouierte, gerierte er sich doch schon als nächster Parteichef und akquirierte bei Veranstaltungen Sponsoren für sich. Ganz abgesehen davon, machte das schließlich das Arbeiten in der Koalition naturgemäß nahezu unmöglich. … Kurz war anwesend und rechtfertigte sich sinngemäß: Wir würden in dieser Koalition untergehen, Kern bereite sich schon auf Wahlen vor, außerdem würde er ausspioniert von Silberstein und Co., sein Wohnhaus würde fotografiert werden und niemand ihm helfen. Dann sagte er noch: »Wenn ich das [die Wahlen] aber machen soll, dann muss ich ja was tun.« Das war das erste Mal, dass offen darüber gesprochen wurde, wie es um die Nachfolge in der Partei stand – oder stehen könnte. Die Stimmung war indigniert, alle waren peinlich berührt, weil es zu diesem Thema ja nie einen formalen oder inhaltlichen Beschluss der Partei gegeben hatte. Es hatte keine Vorentscheidung gegeben, rein gar nichts. Es schwebte bloß irgendwo im Raum. »Die beiden müssen das einmal mit-einander ausreden«, hieß es dann.“

Am Rande der Angelobung von Van der Bellen im Jänner 2017 sprach Mitterlehner Kurz einmal mehr an, um ihm zu sagen, dass er Kurz bei Neuwahlen den Vortritt lassen würde:

„Am Ende des Ganges traf ich Sebastian Kurz und sagte: »Sebastian, komm bitte kurz mit mir ins Abgeordnetenzimmer, da sind wir alleine, wir müssen reden.« Ich wollte Klarheit für den Fall, dass es doch zu Neuwahlen käme. Ich wollte die leidige Frage, wer dann Spitzenkandidat sein würde, endlich offen an- und aussprechen. Sinngemäß sagte ich ihm: »Wenn Kern wirklich Neuwahlen ausruft, dann müssen wir klare Führungsgegebenheiten haben. Dann werde ich dich als Spitzenkandidaten vorschlagen, damit das für dich einmal klar ist. Denn das haben wir noch nie ausgeredet.« Er antwortete sinngemäß, er müsse da noch mit den Ländern einiges abklären, prinzipiell sei er einverstanden, aber bedingungslos mache er das nicht. Für mich war das damit abgesprochen, für den Fall, dass es in absehbarer Zeit, aber auch in der nahen Zukunft zu Neuwahlen käme.“

Mitterlehner klagt, dass es im Frühjahr 2017 de facto zwei ÖVP-Chefs gibt:

„Faktisch gab es in dieser Phase zwei ÖVP-Chefs, mich, den offiziellen, und einen inoffiziellen, gewissermaßen heimlichen, nämlich Sebastian Kurz. Er baute eine Art Parallellimperium auf mit wöchentlichen Parallelbesprechungen, meistens sonntags. Bei unseren regulären Sitzungen war dann deutlich spürbar, dass Dinge vorbesprochen und anders akkordiert worden waren und ich mehr oder weniger ein Potemkinsches Dorf führte. Für mich wäre es ein Befreiungsschlag gewesen, auch öffentlich sagen zu können, dass Kurz der Spitzenkandidat sei. Das wollte er jedoch partout nicht, denn ab dem Zeitpunkt wäre er natürlich sofort dem Feuer der Opposition ausgesetzt gewesen.“

In einem eigen Kapitel befasst sich Mitterlehner mit der Rolle der Medien. Ein Gespräch mit einem bekannten Chefredakteur einer Wiener Boulevard-Zeitung rekapituliert Mitterlehner wie folgt:

„Ich erinnere mich noch gut an eines meiner ersten Gespräche im Jahr 2009 mit einem bekannten Zeitungsmacher, der mich nach einigen Monaten, nachdem ich Minister geworden war, in meinem Büro aufsuchte. »Herr Mitterlehner, wir haben über Sie weder besonders positiv noch negativ geschrieben. Das könnte sich jetzt gravierend ändern«, sagte er sinngemäß. In der Zwischenzeit legte sein Begleiter eine Grafik über die Inserate der einzelnen Ressorts auf dem Besprechungstisch auf: »Ihr Ministerium inseriert im Schnitt weniger als alle anderen. Daher überlegen Sie sich, wie Sie das in Zukunft handhaben wollen.« Die Zeitung hat in den Folgejahren nicht wirklich positiv über mich geschrieben

Über zum Schluss ein paar Bemerkungen die jetzige Regierung:

„Wofür steht dieses neue türkis-blaue Regierungsmodell? Ist es ein Vorbild? Ist es eine zufällige Zweckpartnerschaft, in der man andere politische Inhalte, die der Partner hat, nun eben schlucken muss? Ist Sebastian Kurz vielleicht der, der die FPÖ und die Rechtspopulisten gezähmt hat? Ist er das Role Model für Europas christlich-konservative Volksparteien? Oder begründet er eine völlig neue Form konservativer Politik? Das lässt sich nicht einfach mit ja oder nein beantworten. Sebastian Kurz hat in jedem Fall die Rechten salonfähig gemacht.

Derzeit sehe ich die Gefahr, dass die vorrangig auf Stimmung und Anlass ausgerichtete Politik geltende Wertmaßstäbe beiseite schiebt.

In Österreich scheinen Umfragen zum einzigen Maßstab für den Erfolg und für die Richtigkeit der eigenen Politik geworden zu sein.“