Die EU-Kommission hat offiziell ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich wegen der Anpassung der Familienbeihilfe an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten im EU-Ausland eingeleitet. Die zuständige Sozialkommissarin Marianne Thyssen kündigte dies am Donnerstag in Brüssel an.

Jetzt habe die Analyse der EU-Kommission erneut bestätigt, dass die österreichische Gesetzgebung nicht im Einklang mit EU-Recht stehe. Thyssen stellte auch die Frage, was nach einer Indexierung der Familienbeihilfe noch komme, etwa die Einschränkung von Pensionszahlungen in der EU.

Thyssen verurteilte die Anpassung der österreichische Familienbeihilfe. Die EU-Kommission habe am Donnerstag ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich in Form eines Aufforderungsschreiben entschieden, sagte Thyssen in Brüssel. "Indexierung ist zutiefst unfair", so die Kommissarin.

"Es gibt keine Arbeiter zweiter Klasse, und es gibt keine Kinder zweiter Klasse in der EU", betonte Thyssen. Die Maßnahme, die Österreich gesetzt habe, verhindere nicht einen "Sozialtourismus", sondern treffe diejenigen Menschen, die zum österreichischen Sozialsystem beitragen. Die EU-Kommission habe immer klar gemacht, dass es gleiche Leistungen für gleiche Beiträge am selben Platz geben müsse.

Jetzt habe die Analyse der EU-Kommission erneut bestätigt, dass die österreichische Gesetzgebung nicht im Einklang mit EU-Recht stehe. Thyssen stellte auch die Frage, was nach einer Indexierung der Familienbeihilfe noch komme, etwa die Einschränkung von Pensionszahlungen in der EU.

Am 1. Jänner war in Österreich die umstrittene Verordnung der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung zur Indexierung der Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder in Kraft getreten. Damit wurde diese finanzielle Unterstützung an die Lebenserhaltungskosten in jenem Land angepasst, in dem das Kind von in Österreich Beschäftigten lebt. Für Staatsangehörige aus vielen osteuropäischen EU-Staaten, die in Österreich arbeiten und Kinder in ihren Heimatländern haben, bedeutet das eine Kürzung.

125.000 Kinder bekommen weniger Familienbeihilfe

Die Indexierung war bereits unter der letzten rot-schwarzen Koalition diskutiert worden, die ÖVP-FPÖ-Bundesregierung zog die Änderung schließlich durch und erwartet sich nach früheren Angaben Einsparungen von 114 Millionen Euro pro Jahr. 2017 waren 253,2 Mio. Euro an Beihilfen ins Ausland bezahlt worden.

Für in Österreich tätige Arbeitnehmer, deren Kinder in anderen EU-Mitgliedstaaten leben, wird die Familienbeihilfe seit 1. Jänner 2019 "indexiert". Das bedeutet, dass der Betrag den örtlichen Gegebenheiten im jeweiligen Land angepasst wird. In Hochpreis-Ländern ist sie dadurch höher, für Arbeitnehmer aus osteuropäischen Ländern gibt es jedoch teils empfindliche Einbußen. Indexiert wird nun auch der Kinderabsetzbetrag.

Eine etwas höhere Leistung gibt es durch die Verordnung für Kinder in den Ländern Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Irland, Island und Luxemburg. Auch in den Niederlande, Norwegen, Schweden, der Schweiz und Großbritannien wird eine höhere Familienbeihilfe gezahlt. Betroffen sind davon die Eltern von rund 400 Kindern, geht aus einer Auflistung des Familienministeriums aus dem Vorjahr hervor.

Die weit höhere Zahl an Kindern - insgesamt rund 125.000 - ist jedoch von einer Kürzung betroffen. Die meisten von ihnen leben in Ungarn (38.700), der Slowakei (27.180) sowie Polen (14.865) und Rumänien (14.213).

Erhebliche Einbußen

Für Familien in diesen Länder gibt es teils erhebliche Einbußen. Während in Österreich für ein 0- bis zweijähriges Kind 114 Euro Familienbeihilfe gezahlt werden, sind es für ein Kleinkind in Bulgarien nun nur noch 51,30 Euro. Auch in Rumänien und Polen sind es ähnlich große Unterschiede. Weniger Familienbeihilfe wird auch für in Deutschland lebende Kinder gezahlt, die Differenz beläuft sich hier aber nur auf 3 Euro.

Etwas mehr Familienbeihilfe gibt es unter anderem in Irland (132,92 statt 114 Euro für Null- bis Zweijährige) und in Luxemburg (134,52 Euro). In die Schweiz müssen aufgrund der Indexierung in dieser Gruppe 173,28 Euro gezahlt werden. In diesen Ländern leben aber wesentlich weniger Kinder als in jenen, wo gekürzt wird.

Kritik an der Maßnahme kam schon vor Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens durch die EU-Kommission nicht nur aus betroffenen Staaten, sondern auch aus Brüssel. Die Kommission ließ schon lange vor dem Inkrafttreten zu Jahresanfang wissen, dass eine Indexierung nach dem EU-Recht nicht erlaubt ist, dies habe auch der EuGH bestätigt. Sieben EU-Staaten beschwerten sich bei der EU-Kommission in einem gemeinsamen Brief. Die Staaten der Visegrad-Gruppe (V4) - Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn - sowie Bulgarien, Litauen und Slowenien riefen EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen auf, zu prüfen, ob die österreichische Maßnahme im Einklang mit EU-Recht stehe.

Ungarn machte Druck auf Brüssel

Vorige Woche ersuchte die ungarische Regierung Thyssen nochmals, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich wegen der Indexierung der Familienbeihilfe anzustreben. Man habe am 7. Jänner in einer diplomatischen Note an die österreichische Regierung angekreidet, dass die von der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung beschlossene Anpassung der Familienbeihilfe an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten im EU-Ausland dem EU-Recht widerspreche, so Pal Völner, Staatssekretär im ungarischen Justizministerium. Da "keine Reaktion" erfolgte, habe sich die ungarische Regierung an Thyssen gewandt. Bei Ausbleiben eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die EU-Kommission sei Ungarn bereit, eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof EuGH) einzubringen, hieß es. Eine Klage erwägt auch die rumänische Regierung, während die meisten von Kürzungen betroffenen Staaten zunächst das Vorgehen der EU-Kommission abwarten wollten.

Auch aus Österreich selbst kommt Widerstand. Die NEOS kündigten an, eine Beschwerde bei der EU-Kommission einzubringen. Sie werfen der Regierung vor, mit der Indexierung "wider jedes bessere Wissen" gegen EU-Recht zu verstoßen. Bereits im Herbst hatten die NEOS mit Blick auf die möglichen Folgen einer Indexierung bezüglich eines Rückzugs ausländischer Pflegekräfte aus Österreich beim Sozialministerium nachgefragt. Ergebnis: Ohne Slowakinnen und Rumäninnen würde das österreichische Pflegesystem wohl zusammenbrechen, denn mehr als vier Fünftel der 24-Stunden-Betreuerinnen kommen laut dem Ministerium aus diesen beiden, von Kürzungen betroffenen Staaten.