Josef Riegler feiert heute, Donnerstag, seinen 80. Geburtstag. Er wuchs auf einem kleinen Bergbauernhof bei Judenburg auf, Schulweg eineinhalb Stunden. Er war sechs, als sein Vater 1944 als Soldat in Italien fiel – strafweise hatte dieser an die Front müssen, weil die Großmutter „Grüß Gott“ statt „Heil Hitler“ sagte. Die Jugendjahre seien „ein existenzieller Überlebenskampf“ gewesen, schildert Riegler. Über Hochschülerschaft und Katholische Aktion fand er in den ÖVP-Bauernbund.


Welche Ihrer zahlreichen politischen Ämter bekleideten Sie am liebsten?

JOSEF RIEGLER: Agrarlandesrat und Landwirtschaftsminister. Da habe ich mich wohlgefühlt, weil man sachlich und fachlich arbeiten konnte. Die Schaustellerei in der Spitzenpolitik war ja nie Meines.

Dennoch waren Sie von 1989 bis 1991 Vizekanzler und Bundesparteiobmann der ÖVP.

Mit der Funktion als Bundesparteiobmann bin ich nicht glücklich gewesen. Ich wurde gebeten, das zu übernehmen, aber der tägliche politische Schaukampf war mir zuwider. Trotzdem haben wir einiges zustande gebracht, es war ja die Zeitenwende 1989. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte ich im Jänner 1990 zum ersten ‘Runden Tisch Europa’ mit den demokratischen Politikern aus Osteuropa einladen.

Wahlen konnten Sie freilich nicht gewinnen.

Zu gewinnen gab es für die ÖVP damals nichts. Franz Vranitzky stand auf dem Höhepunkt, er war sozusagen Kanzler und Bundespräsident in Personalunion, weil ja Kurt Waldheim in der Hofburg isoliert war. Und Jörg Haiders FPÖ wilderte damals vor allem im ÖVP-Segment nach Stimmen.

Hätten Sie persönlich mit einer FPÖ regieren können?

Ich wollte immer dazu beizutragen, dass es zu einer Zusammenarbeit zwischen der ÖVP und den Grünen kommt. Das wäre ja 2002 unter Wolfgang Schüssel fast gelungen. Da hätte man die ökosoziale Marktwirtschaft leben können: auf der einen Seite die ÖVP mit der Wirtschaftsbetonung, auf der anderen Seite die Grünen mit der starken ökologischen Ausrichtung. Das wäre das Faszinosum gewesen. Aber gut, das ist Geschichte, nachdem die Grünen momentan nicht im Parlament sind. Vielleicht gibt es mittelfristig wieder eine Chance.

Sie waren ein Pionier der „ökosozialen Marktwirtschaft“, haben sehr früh die Balance zwischen Wirtschaft und Umwelt als Ziel ausgerufen. In den letzten drei Jahrzehnten erlitt diese Idee allerdings viele Rückschläge.

Zunächst wurde dieses Konzept gut angenommen. Später ist das verschüttet worden durch den Siegeszug des Neoliberalismus. Von ungefähr 1995 bis zur Wirtschaftskrise 2008 gab es auf internationaler Ebene ausschließlich Gegenwind. Stattdessen wurde das US-Modell des reinen Profitkapitalismus zur weltbeherrschenden Doktrin. Es dominierten ungezügelte Finanzmärkte und weltumspannende Konzerne, die sich an keine Regeln zu halten brauchten.

Man könnte meinen, da spricht ein antikapitalistischer Moralist. Sind Sie ein Linker in der ÖVP?

Links? Nein, ich stehe in der Mitte. Der Identitätsstrang des Ökosozialen ist ja nach wie vor vorhanden, sowohl in Österreich als auch international. Im Rahmen der 17 UNO-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung haben sich die Staaten beim historischen Gipfel 2015 in New York dazu verpflichtet, Armut, Klimawandel und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Das war aus Sicht des ökosozialen Gedankens ein schöner Erfolg. Aber in der Umsetzung könnte natürlich mehr weitergehen.

Welchen Schritt vermissen Sie besonders?

Eine ökosoziale Steuerreform wäre der entscheidende Hebel für den Umbau der Wirtschaft. Da geht es nicht um neue Belastungen, sondern darum, aufkommensneutral umzuschichten – weg von den hohen Steuern auf Arbeit, hin zu Steuern auf Umweltverbrauch und CO2.

Die türkisblaue Bundesregierung setzt eher andere Signale, zum Beispiel Tempo 140 auf Autobahnen, Wirtschaft als Verfassungsziel und eine Genehmigungsfiktion bei Umweltverträglichkeitsprüfungen.

Ich möchte die Tagespolitik nicht kommentieren. Grundsätzlich machen Kanzler Sebastian Kurz und auch Umweltministerin Elisabeth Köstinger gute Arbeit. Kurz ist ein politisches Ausnahmetalent. Aber in der Umweltpolitik würde ich der Regierung mehr Mut und Entschlossenheit wünschen. Köstinger hat in ihrer Art genügend Zähigkeit, dass ich ihr zutraue, etwas weiterzubringen.

Warum hat es der Umweltschutz in der Politik so schwer?

Der Klimawandel wird nach wie vor unterschätzt. Man übersieht, dass es dort nicht um eine politische Diskussion und um die Suche nach Kompromissen geht. Sondern dort wirken Naturgesetze. Mit der Natur kann man nicht feilschen. Wenn ich soundsoviel Erwärmung verursache, dann gibt es zusätzliche Verdunstung. Und dann kommen Hurrikans, Taifune und Wolkenbrüche.

Wird das Problem Klimawandel von der Politik verdrängt?

Insgesamt ist es ein riesiges Problem der Verdrängung. Ein Teil verdrängt es bewusst aus Eigeninteresse unter dem Motto: Die paar Jahre, wo ich Verantwortung trage, betrifft es uns nicht. Beim anderen Teil ist es Uneinsichtigkeit.

Der Begriff ökosozial umfasst auch das Soziale. Gerade auf diesem Feld schlägt der Regierung viel Kritik entgegen.

Soziale Fairness muss ja ständig weiterentwickelt werden an den Herausforderungen der Zeit. Es ist gut, dass Kanzler Kurz das Thema Pflege aufgegriffen hat. Ich kann mich erinnern, wie wir seinerzeit mutige Reformen umgesetzt haben, das war schon damals nicht leicht. Ich denke an das zweite Karenzjahr, die Umwandlung des Hilflosenzuschusses in ein abgestuftes Pflegegeld und die spürbare Anhebung der Mindestrente über vier Jahre.

Heute wird vielfach eine Spaltung der Gesellschaft sichtbar, wo man genau darauf achtet, wer möglicherweise zu viel bekommt.

Ich sehe manchmal eine Zuspitzung in Richtung eines ungehemmten Egoismus. Dadurch wird die Gesellschaft kälter, und das hat Rückwirkungen in Richtung der populistischen Extreme. Ein Paradebeispiel ist die italienische Regierung, wo zwei extrem populistische Kräfte - ganz links und ganz rechts - ihre Extrempositionen zum Regierungsprogramm erheben. Auch das europäische Einigungswerk ist leider nicht festgemauert.

Woran liegt das?

Der Egoismus, der Hedonismus und der Neidkomplex sind wesentlich stärker geworden. Das Thema geht weit über die Politik hinaus. Auch Papst Franziskus artikuliert ja, dass wir in der Gesellschaft wieder Kräfte finden und entwickeln müssen, die den Zusammenhalt, das Augenmaß und die Gerechtigkeit zum Ziel haben. Die wissenschaftlich-technische Entwicklung wurde bis auf die Spitze getrieben, aber gleichzeitig sehen wir, dass wir im rein Menschlichen, im Charakterlichen in einer Katastrophe sind. Wir waren schon viel weiter, weil es schon einmal einen viel stärkeren Zusammenhalt gegeben hat.

Ist Politik heute ein schwereres Geschäft als früher?

Ja, es ist um Eckhäuser schwieriger geworden, in der Politik etwas zu gestalten. Der mediale Druck und die Beschleunigung lassen kaum eine Chance, zunächst einmal gründlich nachzudenken. Die Minister sind mehr in Brüssel als in Wien. Und die Politik insgesamt ist eine Getriebene der globalen Ökonomie.