Frau Bejarano, Sie stehen mit der Hip-Hop-Band "Microphone Mafia" auf der Bühne und rappen wie ein junges Mädchen - woher nehmen Sie Ihre Energie?
ESTHER BEJARANO: Es gibt nur noch ein paar Zeitzeugen von uns. Wir müssen erzählen, was damals passiert ist. Ein Vergessen wäre die Erlaubnis zur Wiederholung.


Weswegen Hip-Hop? Um junge Menschen zu erreichen?
BEJARANO: Ich gebe ja zu, dass das nicht ganz meine Musik ist (lacht). Aber als ausgebildete Koloratursopranistin kommt man bei der Jugend nicht wirklich an.

Sie stehen mit einem Moslem und einem Christen auf der Bühne, Sie sind Jüdin - ein Statement?
BEJARANO: Ja, und wir sind auch noch drei Menschen unterschiedlichen Alters, die Freude daran haben, gemeinsam Musik zu machen. Wir machen Hip-Hop und Rap, weil Rapper heute die Angefeindeten sind. Rassismus ist leider sehr zeitgemäß.

Sie überlebten in Auschwitz durch das Musizieren in diesem Orchester. Wollen Sie erzählen?
BEJARANO: Ich war schon ein paar Jahre dort und musste Steine schleppen, von einer Seite auf die andere und wieder retour. Völlig sinnlos. Ich war am Ende. Im Orchester suchten sie eine Akkordeonspielerin. Ich konnte aber nur Klavier spielen, wusste aber, wenn ich das nicht packe, bin ich tot. Dann musste ich vorspielen.


Was?
BEJARANO: "Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami".

Und?
BEJARANO: Den Schlager kannte ich. Irgendwie hab' ich es hingekriegt. Ich musste es schaffen. Wenn ich Jugendlichen von früher erzähle, sagen sie immer, wie unvorstellbar es für sie ist, dass es in einem Vernichtungslager ein Orchester gegeben hat. Aber die Nazis wollten das. Sie haben mit dem Mädchenorchester geprahlt, wenn die Bonzen kamen. Denen haben sie suggeriert, dass es so schlimm nicht sein kann, wenn sogar musiziert wird. Es war grauenhaft, wenn wir am Tor standen und spielen mussten, wenn neue Züge auf diesen besonderen Gleisen ankamen, die direkt in den Tod führten. In die Gaskammern. Tausende Menschen. Die Nazis hatten Angst, dass es in den Zügen zu Aufständen kommt, und so haben sie uns an die Tore gestellt, als Täuschungskommando, damit alle friedlich und beruhigt in den Tod fahren konnten. Das ist das Allerschlimmste unter all den schrecklichen Dingen, die wir dort erlebt haben.

Was mussten Sie spielen?
BEJARANO: Märsche, wenn die Arbeitskolonnen hinausgingen und abends hereinkamen - damit alle Gefangenen "Im Gleichschritt! Marsch! Marsch!!" gingen.

Wie gehen Ihre Kinder mit dieser Familiengeschichte um?
BEJARANO: Mein Sohn Joram steht mit mir auf der Bühne und singt gegen den Faschismus an. Bei ihm kommt die Wut heraus. Bei meiner Tochter Edna steckt sie drinnen. So seltsam es klingt, aber das, was ich erlebt habe, hat meine Tochter traumatisiert. Ich denke, dass sie alles Faschistische sogar noch mehr hasst als ich. Sie war ab 1970 Sängerin bei der deutschen Beat- und Rockband "The Rattles". Anfangs sang sie auch mit uns, wollte dann etwas Eigenes machen. Aber auftreten ist für sie vorerst vorbei, sie hatte einen Herzinfarkt.

Sind Sie religiös?
BEJARANO: Nein. Ich stamme aus einem sehr liberalen Haus. Mein Vater war zwar Kantor, aber ein liberaler. Wir feiern in der Familie immer wieder einmal Chanukka - wir sagen dann immer "Weinukka" (lacht), aber ich gehe nicht in die Synagoge, außer, wenn wir singen. Ist nicht meins. Ich kann einfach nicht an einen Gott glauben, der Auschwitz zugelassen hat.


Sie gingen 1960 von Israel freiwillig zurück nach Deutschland - in das Land, in dem Ihnen so viel Leid zugefügt wurde. Wieso?
BEJARANO: Vor allem, weil mein Mann in Israel nicht mehr in den Krieg wollte. Er hatte ja schon mitgekämpft, auch ich war als Soldatin 1947 im Unabhängigkeitskrieg. Er sagte: "Ich kann nicht mehr." Und so wäre er als Kriegsdienstverweigerer ins Gefängnis gekommen. Wir mussten weg. Und wir hatten kein Geld. In Deutschland gab es für Nazi-Opfer eine Soforthilfe. So konnten wir anfangen. Ich war zuerst bei den Kindern und habe dann eine kleine Boutique eröffnet, mein Mann hat als Feinmechaniker bei Rodenstock Arbeit gefunden. Freunde von uns sind schon früher nach Hamburg, die haben uns geschrieben: "Kommt doch, es ist ganz anders als früher, es gibt keine Nazis mehr!" Was natürlich nicht stimmte. Weil ich entsetzt über die Aktivitäten der NPD war, habe ich mit anderen 1986 auch das deutsche Auschwitz-Komitee mitgegründet.

Haben Sie noch Kontakt zu Überlebenden von Auschwitz?
BEJARANO: Natürlich! Mit einer vom Mädchenorchester, die in Israel in einem Kibbuz lebt, habe ich engen Kontakt. In England gibt es diese berühmte, diese . . .


Anita Lasker-Wallfisch?
BEJARANO: Ja, die.

Die mögen Sie nicht so gern?
BEJARANO: Die mag ich überhaupt nicht!


Warum nicht?
BEJARANO: Weil sie sich einmal gesträubt hat, mit mir zusammen im Fernsehen aufzutreten. Ich wäre ihr zu links, sagte sie.

Mit Konstantin Wecker sind Sie zuletzt auf der Bühne gestanden. BEJARANO: Wir haben gemeinsam ein schönes Lied gesungen: "Sage Nein!" Darin heißt es: "Wenn sie jetzt ganz unverhohlen, wieder Nazi-Lieder johlen, über Juden Witze machen, über Menschenrechte lachen. . . dann steh' auf und misch dich ein: Sage Nein!" Und wenn das nicht hilft, dann rappe ich eben.

(Das Interview wurde Ende 2013 geführt, als Esther Bejarano einen Auftritt in Graz hatte. Dieser Tage stand die 93-Jährige mit ihrer "Microphone Mafia" in Deutschland wieder auf der Bühne und rappte.)

Beim Gespräch in der Grazer Synagoge
Beim Gespräch in der Grazer Synagoge © Helge O. Sommer
© Helge O. Sommer