Am Samstag mussten Hilfsorganisationen ihre Arbeit aufgrund der Sicherheitslage kurzfristig unterbrechen. Was ist Ihre Wahrnehmung dazu?

ANDREAS KNAPP: Ich kann jetzt nur für Aleppo beziehungsweise den Norden Syriens sprechen. Hier ist die Sicherheitslage wirklich stabil, aber die humanitäre Lage ist nach wie vor dramatisch. Die letzten Such- und Bergemaßnahmen, um doch noch Lebende unter den Trümmern zu finden, finden noch statt. Wegen der verstrichenen Zeit gibt es kaum mehr Hoffnung. Aber ganz aufgegeben haben die Mannschaften nach wie vor nicht. Für uns als humanitäre Hilfsorganisation ist es schwierig, Menschen zu versorgen, die praktisch alle Angst davor haben, in die Häuser zurückzukehren, etliche Häuser sind auch zerstört. 

Viele Menschen stehen jetzt vor dem Nichts. Wie werden die versorgt?

ANDREAS KNAPP: Es wurde unter der Koordination der Regierung und der Vereinten Nationen versucht, möglichst rasch Notunterkünfte zur Verfügung zu stellen. In Aleppo sind das vorwiegend in Schulen, öffentliche Gebäude, Moscheen, Kirchen – damit die Leute zumindest über Nacht ein Dach über dem Kopf haben. Dabei geht es auch um eine Grundausstattung mit dem Notwendigsten: Wasser, Nahrungsmittelpakete und Matratzen. Aus meiner Sicht sind diese Unterkünfte aber noch heillos überfüllt, deswegen müssen viele provisorisch kampieren und in Parks übernachten. Zu groß ist die Angst vor Nachbeben und davor zurück in die Wohnungen zu gehen.

Man hört, dass in den letzten Tagen Gebäude auf Anordnung der Regierung gezielt zum Einstürzen gebracht werden mussten, weil die einfach so unsicher waren. Dabei ist es dann aber teils zu einem Dominoeffekt gekommen und eine ganze Häuserzeile eingestürzt ist. Es ist dramatisch. Viele Gebäude sind statisch instabil, auch wenn sie von Außen gar nicht so aussehen, es wäre wirklich gefährlich, diese wieder zu beziehen. 

Somit stehen viele vor der Entscheidung, im Freien zu übernachten oder in ein einsturzgefährdetes Haus zurückzukehren. Gibt es viele, die das machen?

ANDREAS KNAPP: Das ist schwer abzuschätzen, aber ich denke, es machen sicher einige. Was mich aber besonders betroffen macht, ist jetzt zu sehen, dass genau diese Menschen und Stadtgebiete, die vom Konflikt am meisten betroffen waren, jetzt wieder jene sind, die am meisten leiden. Die Häuser, die durch den Konflikt noch nicht ganz zerstört waren, waren von Bomben und Granaten schwer gezeichnet und sind beim Erdbeben am schnellsten eingestürzt. 

Wie gehen die Menschen mit dieser katastrophalen Lage um? Macht sich Verzweiflung breit oder kann man auch in dieser Lage noch Hoffnung schöpfen?

ANDREAS KNAPP: Es ist ein Wechselbad der Gefühle – auch ich empfinde das. Als ich am Freitag angekommen bin, hatte ich das Gefühl, dass die Nachricht über die Aufhebung der Sanktionen durch die USA eine hoffnungsgebende Nachricht war – so haben das zumindest meine lokalen Caritas-Kolleginnen und -Kollegen mitbekommen. Manchmal heben auch ganz banale Dinge die Stimmung, wie am Freitag, als zum ersten Mal seit dem Beben wieder die Sonne gescheint hat und es etwas wärmer war.

Meine Kollegen erzählen mir auch, dass sich die Menschen nun vom ersten Schock etwas erholt und ihr Alltagsleben wieder ein wenig geordnet haben. Bei den Helferinnen und Helfern hat sich die Stimmung auch verbessert, als eine große Abordnung aus Damaskus zur Unterstützung eingetroffen ist und auch, weil am Tag davor ein Team von der Caritas Libanon eingetroffen ist. In den zerstörten Gebieten und den überfüllten Notlagen habe ich schon eine Stimmung der Verzweiflung wahrgenommen.

Andreas Knapp (ganz rechts) ist für die Caritas vor Ort
Andreas Knapp (ganz rechts) ist für die Caritas vor Ort © Caritas

Ist die Versorgung mit Hilfsgütern schon gut angelaufen und was wird am dringendsten benötigt?

ANDREAS KNAPP: Am wichtigsten ist jetzt Wasser, Nahrung, Matratzen und Decken für die Notunterkünfte. Das hat anzulaufen begonnen, das habe ich selbst beobachtet. In der Erwartungshaltung der Betroffenen ist das aber wahrscheinlich immer noch zu wenig. Da muss noch mehr kommen. Die gute Nachricht ist, dass das Notwendigste immer noch in Syrien erhältlich ist, die Märkte geben das noch her. Die Hilfe wird über bereits bestehende Koordinationsstrukturen organisiert – das funktioniert nach meiner Einschätzung und auch laut unseren Partnern recht gut. Was man nicht vergessen darf, ist, dass die Helfenden meist selbst betroffen sind. Die wohnen in Aleppo und die hat das Erdbeben auch aus der Bahn geworfen. Da braucht es auch ein paar Tage, bis das anläuft.  

Eine Herausforderung wird es, nach den Notunterkünften halbwegs sichere richtige Unterbringungen zu finden. Deswegen wurden bereits pensionierte Ingenieure gebeten, sich zu melden, um bei der Einschätzung der Sicherheit von Gebäuden zu helfen.

In der Türkei stürzten viele illegal mit falscher Bauweise errichtete Gebäude ein. War das hier auch ein Problem?  

ANDREAS KNAPP: Es gab bestimmt auch hier solche Fälle. Was ich gehört habe, ist, dass bauliche Veränderungen aufgrund des Bürgerkrieges problematisch waren. Da wurden etwa Stockwerke vergrößert oder von Geschäftsleuten in den lokalen Veränderungen vorgenommen, die die Statik beeinflussen. Aber von systematischen Problemen ist mir nichts zu Ohren gekommen.  

Die Solidarität mit den Erdbebenopfern scheint in Österreich groß. Teilen Sie diesen Befund und unternimmt die Regierung genug, um zu helfen?

ANDREAS KNAPP: Ich teile diesen Befund absolut. Das ist für mich auch ein Zeichen des Erfolgs der Kampagne Nachbar in Not, bei der viele Hilfsorganisationen und der ORF dahinter sind und noch wichtiger: die große Anzahl der privaten Spenderinnen und Spender. Die Aktion wurde am Mittwoch gestartet und ist gut angelaufen. Was die Regierung betrifft, habe ich den Eindruck, dass hier schnell Hilfe organisiert wurde, sowohl Geld aus dem Katastrophenfonds als auch Hilfsmannschaften. Aber ich glaube, es braucht auch von öffentlicher Seite noch mehr. Uns als Caritas-Verantwortlicher ist mir bewusst, dass die Hilfe einen langen Atem brauchen wird. Gerade in diesen Gebieten, die mehrfach von Krisen betroffen sind, stehen die Leute vor dem Nichts und haben ihre ökonomische Existenz verloren. Hier braucht es Programme, die ihnen wieder eine gewisse Perspektive geben.