Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi soll Italiens Regierung aus dem neuerlichen Schlamassel führen.

Am Ende gescheiterter Verhandlungen über eine neue Regierung um den vergangene Woche zurückgetretenen Premier Giuseppe Conte hat der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella am Mittwoch den früheren Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, mit der Regierungsbildung beauftragt. Der 73-jährige Draghi nahm Mattarellas Auftrag bedingt an, wie der Generalsekretär im Quirinal, Ugo Zampetti, mitteilte.

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Draghi muss nun prüfen, ob er eine Mehrheit auf die Beine stellen kann. Mattarella führte ein 95 Minuten langes Gespräch mit ihm, bevor er ihm den Regierungsauftrag erteilte.

Staatspräsident Sergio Mattarella hatte gestern Abend angekündigt, er wolle "so schnell wie möglich einen Auftrag zur Bildung einer Regierung erteilen, die unmittelbar die derzeit gravierenden, unaufschiebbaren Probleme angeht."

Die Fünf-Sterne-Bewegung ist in der Frage einer möglichen neuen Regierung um Mario Draghi,gespalten. Während sich die Hardliner der populistischen Gruppierung gegen ein Fachleutekabinett unter dem 73-jährigen Römer stemmen, sind andere Parteiflügel bereit, sich bei einem Vertrauensvotum über die neue Regierung der Stimme zu enthalten.

Erwartet wird, dass Fünf-Sterne-Gründer Beppe Grillo die offizielle Linie der Bewegung diktiert, die gespalten auftritt. Die stärkste Einzelpartei im italienischen Parlament hatte sich stark um eine Wiederbelebung der Koalition bemüht, die bis vergangene Woche die Regierung des zurückgetretenen Premiers Giuseppe Conte unterstützt hatte.

Draghi ist der Mann der Stunde

Wenn es darum geht, Auswege aus verworrenen Situationen zu finden, ist Mario Draghi der Retter in der Not. 2005 polierte der Ökonom das Image der zuvor von einem Skandal erschütterten Notenbank auf. Mit seiner Diskretion und seiner Ernsthaftigkeit erntete "Mr. Euro" in seinen Jahren als EZB-Präsident viel Lob. Jetzt muss er eben eine tragfähige Regierung in Rom auf die Beine bringen.

An Herausforderungen ist "SuperMario", wie die Italiener den Wirtschaftsexperten nennen, längst gewöhnt und zwar schon seit seiner Kindheit. Der 1947 geborene Römer musste schon früh im Leben Verantwortung für seine beiden jüngeren Geschwister übernehmen. Als er 15 Jahre alt war, starb sein Vater und kurz darauf starb auch seine Mutter, eine Tante kümmerte sich um die drei Kinder. Im Gymnasium in Rom zählte Draghi Ex-Ferrari-Chef Luca di Montezemolo zu seinen Klassenkameraden. Schon zu Schulzeiten sei Draghi ernst und tüchtig gewesen, ein wahrer Musterschüler, erinnert sich Montezemolo.

Nach dem Wirtschaftsstudium an der römischen Universität La Sapienza promovierte der Katholik in den USA am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei zwei Nobelpreisträgern. Es folgten die Habilitation und die Arbeit als Professor an italienischen Universitäten. Der passionierte Bergsteiger und zweifache Vater vertrat sein Land zwischen 1984 und 1990 bei der Weltbank, bevor er 1991 Generaldirektor im italienischen Finanzministerium wurde. Diesen Posten bekleidete er zehn Jahre lang. In dieser Zeit war er mitverantwortlich für große Privatisierungen in den Jahren 1996 bis 2001.

2002 rückte er zum Vizepräsidenten der US-Investmentbank Goldman Sachs auf. Um einen Interessenskonflikt zu vermeiden, verkaufte er seine Goldman-Sachs-Anteile, als er im Februar 2006 das Chefamt der italienischen Zentralbank ("Banca d'Italia") übernahm, als diese von Skandalen erschüttert wurde. Sein Vorgänger an deren Spitze, Antonio Fazio, hatte wegen einer Affäre um Insidergeschäfte und Marktmanipulation den Hut nehmen müssen. Der weltoffene Draghi galt als bestens geeignet, den beschädigten Ruf Italiens aufzupolieren. Unter seiner Leitung gewann die Notenbank international wieder an Format.

2011 rückte Draghi zum Präsidenten der Europäischen Notenbank auf, den Posten hatte er bis Oktober 2019 inne. Als EZB-Chef polarisierte der Ökonom. Fachleute bewerten sein Erbe unterschiedlich. Nullzins, Strafzins für Banken, Anleihenkäufe - Draghi zog im Kampf gegen Mini-Inflation und Konjunkturflaute alle Register. Nie zuvor hat die Europäische Zentralbank über einen so langen Zeitraum so viel billiges Geld in den Markt gepumpt. Im Juli 2012 betonte Draghi in London in einer mittlerweile berühmt gewordenen Rede, die Zentralbank werde alles tun im Rahmen ihres Mandats, was nötig ist ("whatever it takes"), um den Euro zu retten. Dies gilt bis heute vielen Experten als Wendepunkt in der Euro-Schuldenkrise. Kritiker Draghis unterzeichnen die schädlichen Nebenwirkungen seiner expansiven Geldpolitik.

Seit Ende seines Mandats als EZB-Präsident ist es ruhiger um Draghi geworden. Im vergangenen Juli wurde er von Papst Franziskus zum Mitglied der päpstlichen Akademie der sozialen Wissenschaften ernannt.

Schon zu Beginn der Regierungskrise in Rom vor drei Wochen wurde er als möglicher Chef eines Fachleutekabinetts ins Spiel gebracht. Nachdem die Verhandlungen um die Bildung einer dritten Regierung um Giuseppe Conte gescheitert sind, bekommt Draghi jetzt die Chance, die Führung eines Einheitskabinetts mit Parteien aus allen politischen Lagern zu übernehmen. Ob es SuperMario gelingt, ein tragfähiges Kabinett aufzubauen, das das Land sicher durch die Pandemie und Wirtschaftskrise steuert, werden die nächsten Tage zeigen. Sollte es ihm nicht gelingen, winkt ein weiteres politisches Amt: Draghi gilt als aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge von Staatspräsidenten Sergio Mattarella, dessen Amtszeit Anfang 2022 zu Ende geht.