Das Vereinigte Königreich im Ausnahmezustand. Mit dem Ausfall von Premierminister Boris Johnson hat in der britischen Regierungszentrale über Nacht beträchtliche Ungewissheit Einzug gehalten. Während der am Coronavirus erkrankte Johnson am Dienstag auf der Intensivstation des benachbarten St. Thomas-Krankenhauses lag, rangen seine Minister in No 10 Downing Street um einen funktionsfähigen Regierungsapparat.

Johnsons Zustand sagte ein Regierungssprecher zu Mittag, sei „stabil“, der Premier habe jedenfalls „keine Lungenentzündung“. Am Mittwoch wurde bekannt gegeben, das Fieber gehe zurück. Der 55-Jährige war am Sonntagabend in die Klinik eingeliefert worden, weil er Husten und Fieber auch nach zehn Tagen nicht abschütteln konnte. Am Montagabend wurde er auf die Intensivstation verlegt.

Die Verlegung löste einen Schock in Downing Street aus und trug dem Tory-Politiker alarmierte Genesungswünsche aus aller Welt ein. Heimische Politiker und auswärtige Staats- und Regierungschef wünschten ihm „Durchhalte-Vermögen“ und eine rasche Besserung.
Der Buckingham Palace erklärte, die Königin werde auf dem Laufenden gehalten über die Verfassung ihres Premiers. Die Queen übermittelte Genesungs wünsche an Johnsons Familie und an seine schwangere Partnerin Carrie Symonds, die kürzlich ihrerseits an einer „milden Form“ der Krankheit litt. US-Präsident Donald Trump verkündete, „alle Amerikaner“ beteten für seinen „sehr guten Freund“ in London, seine Administration habe, um zu helfen, „alle Ärzte von Boris kontaktiert“. Trumps Angebot experimenteller Medikamente für Boris Johnson lehnte London aber dankend ab.

In Downing Street hatte Außenminister Dominic Raab, der als „Erster Minister“ De-facto-Stellvertreter Johnsons ist, am Vorabend bereits bestätigt, dass der Premier ihn vor der Überstellung auf die Intensivstation um seine Vertretung „wo immer nötig“ gebeten habe. Raab, dem Johnson den Titel des „Ersten Ministers“ voriges Jahr eher beiläufig verliehen hatte, zeigte sich von der plötzlichen Entwicklung sichtlich schockiert.

"Regierungsgeschäfte laufen weiter"

Am Dienstag leitete der Minister alle anberaumten Sitzungen in der Regierungszentrale, nachdem zuvor Kabinettssekretär Sir Mark Sedwill, ein hoher Staatsbeamter, eingesprungen war. Raab bekräftigte: „Die Regierungsgeschäfte laufen weiter.“ Es gebe „einen unglaublich starken Team-Geist“ hinter Johnson, fügte er hinzu. Raab musste allerdings auch einräumen, dass er seit Samstag nicht mehr mit dem Premier gesprochen hatte, obwohl in Downing Street noch bis Montagabend immer wieder betont wurde, der Regierungschef habe die „ voller Kontrolle“ über die Regierungsgeschäfte und sei und mit seinen Ministern in Kontakt.
Scharfe Kritik hagelte es zur Informationspolitik der Regierung. Sie hatte Johnsons Gesundheitszustand beharrlich verharmlost. Johnson selbst hatte in einem Video am Freitag einen Teil seiner Symptome verschwiegen. Ein Minister hatte trotz der Anzeichen für Johnsons ernsten Zustand versichert, dieser sei „wohlauf“.

Auch die Frage, wer nun eigentlich mit welcher Legitimität und in welchem Ausmaß Verantwortung trage in London, führte gestern zu ersten Auseinandersetzungen. So verlangte der konservative Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in Westminster, Tobias Elwood, zu wissen, wer für „die nationale Sicherheit“ verantwortlich sei, also die Kontrolle über die britische Atomstreitkraft hat. Dazu sagte der für die Kabinettskoordination zuständige Minister Michael Gove, in dieser Frage sei die Regierung niemandem Aufschluss schuldig. Gove hat sich mittlerweile selber daheim isoliert, da ein Familienmitglied an Corona erkrankt ist,

Gedrängt zu weiteren Auskünften, erklärte ein Regierungssprecher, sollte auch Außenminister Raab erkranken, würde Schatzkanzler (Finanzminister) Rishi Sunak in die Bresche springen. Nach Sunak wäre, der ministeriellen Rangordnung zufolge, Innenministerin Priti Patel an der Reihe.

Mit den bei Pressekonferenzen im Wechsel auftretenden Ministern und ihren sich im bunten Reigen ablösenden wissenschaftlichen Beratern hat die britische Regierung schon seit Wochen ein recht wirres Bild abgegeben. Schon bevor Boris Johnson von der Bühne verschwand, nannten Beobachter in der gesamten britischen Presse den Regierungskurs konfus.

Nun finden Kritiker, es sei eine unhaltbare Situation, dass relativ unerfahrene Politiker die Regierungsgeschäfte versähen und dass keine parlamentarische Kontrolle möglich sei über die Entscheidungsträger im Staate. Mit 854 neuen Todesfällen stieg die Zahl der Corona-Opfer in Großbritannien am Dienstag auf über 6.000 an.