Der deutsche Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hatte die Sozialreformen von Peter Hartz zu ihrem Start 2005 als „Mutter aller Reformen“ bezeichnet. Sein damaliger SPD-Parteichef und Regierungschef Gerhard Schröder hatte zwei Jahre zuvor die Messlatte für die Ausarbeitung der Sozial-Reformen in Deutschland hochgelegt: "Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen."

Die Schrödersche Vorgabe wurde im Rahmen der Agenda 2010 in "Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" gegossen und mit der rot-grünen Mehrheit im Bundestag beschlossen. Sie gelten bis heute als Initialzündung für den Wirtschaftsaufschwung der folgenden Jahre. Um den Druck auf unwillige Arbeitslose aufzubauen, formulierte das Gesetz deutlich ausgeweitete Sanktionsmöglichkeiten im letzten Auffangnetz der Grundsicherung.

Die Sozialdemokraten arbeiten sich seit langem an der Agenda-Politik ihres Altkanzlers ab. Denn nicht nur die Parteilinke in der SPD hat inzwischen erkannt, dass Hartz IV in der derzeitigen Form nicht gut funktioniert und der Regelsatz kaum zum Leben ausreicht. Sie hat sich in weiten Teilen von ihrer Vorzeigereform abgewandt und distanziert. Und bekam nun einerseits Unterstützung für ihren Veränderungswillen vom Bundesverfassungsgericht und andererseits als Teil der Großen Koalition einen Arbeitsauftrag.

Große Aufgabe für die Große Koalition

Die Karlsruher Höchstrichten sehen die Kürzungen von Hartz-IV-Leistungen bei Pflichtverletzungen als teilweise verfassungswidrig an. Kürzungen bei Verstößen gegen die Auflagen seien um maximal 30 Prozent möglich, die bisher möglichen Abzüge bei Verletzung der Mitwirkungspflicht um 60 oder sogar 100 Prozent aber verfassungswidrig. Das Ziel der Gewährung von staatlichen Leistungen muss eine menschenwürdige Existenz sein, urteilten die Richter, wie der Vizepräsident des Gerichts, Stephan Harbarth, den Richterspruch begründete. Denn schon der erste Satz des Grundgesetzes für die Bundesrepublik besagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und führt aus: Die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Fördern und Fordern

Damit kehrt das Gericht von der Vorstellung ab, der Staat müsse arbeitslose Menschen zu deren Mithilfe bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt mit Gewalt zwingen. Das dürfte die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD unter Handlungsdruck bringen. Neben dem Thema Grundrente hat die Regierung nun noch eine sozialpolitische Neujustierung vorzunehmen. Die SPD vor allem wird dieses Urteil nutzen, um sich in dieser Frage neu auszurichten. Hartz IV mit seinen Sanktionen dürfte als ganzes nun in Frage gestellt werden. Die Parteilinke sin der SPD ieht die Sozialstaatsreform schon länger als Sollbruchstelle für die Koalitionsfrage mit den Parteischwestern von CDU und CSU. Die Union bekommt von Sozialverbänden und Gewerkschaften zusätzlich Druck, sich in den kommenden Monaten zu bewegen. Die CDU will die Hartz-IV-Gesetze zwar ebenfalls reformieren, aber bisher auch nicht abschaffen.