Der frühere britische Premierminister David Cameron hält ein zweites Brexit-Referendum für möglich. "Ich glaube, man kann es nicht ausschließen, weil wir in der Klemme stecken", sagte der konservative Politiker in einem Interview der "Times" (Samstag). Gleichzeitig kritisierte Cameron das Vorgehen des aktuellen Regierungschefs Boris Johnson.

Er unterstütze weder die von Johnson auferlegte Zwangspause des Parlaments noch den Fraktions-Rauswurf von 21 Tory-Abgeordneten, die gegen die Regierung gestimmt hatten, sagte Cameron. Beides sei "nach hinten losgegangen". Auch einen EU-Austritt ohne Abkommen, wie von Johnson angedroht, halte er für keine gute Idee.

Die beiden Männer verbindet eine langjährige, von starker Konkurrenz geprägte Beziehung. Sie kennen sich bereits aus Schultagen im Elite-Internat Eton - und die Rivalität scheint noch immer nachzuwirken. Erst vor Kurzem war ein aktuelles Regierungsdokument an die Öffentlichkeit gelangt, in dem Johnson seinen Vor-Vorgänger als "mädchenhaften Streber" bezeichnet.

Cameron war nach dem Brexit-Votum der Briten im Jahr 2016 zurückgetreten. Er hatte das Referendum im Wahlkampf 2015 versprochen, um dem euroskeptischen Flügel der Konservativen sowie den EU-Gegnern der UKIP den Wind aus den Segeln zu nehmen. Cameron hatte für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union geworben, unterlag aber knapp den Befürwortern eines Austritts, zu deren Wortführern Johnson gehörte. In der kommenden Woche will Cameron seine Memoiren mit dem Titel "For the Record" (Fürs Protokoll) veröffentlichen.

Cameron verteidigt darin nach eigenen Angaben seine Entscheidung, das Volk über die britische EU-Mitgliedschaft abstimmen zu lassen. "Die Frage musste geklärt werden, und ich dachte, das Referendum kommt (sowieso)." Auch mehr als drei Jahre nach seinem Rücktritt vergehe kein Tag, an dem er nicht über die verlorene Volksabstimmung nachdenke, räumte er ein. "Ich mache mir große Sorgen darüber, was als nächstes passieren wird."

Johnson hatte sich am Freitag bei einer Rede in Nordengland "vorsichtig optimistisch" gezeigt, was die Chancen auf ein Abkommen mit der EU in letzter Minute betrifft. Er will sich am Montag mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu einem Arbeitsessen in Luxemburg treffen.

Hartnäckig halten sich Berichte über eine mögliche Annäherung zwischen London und Brüssel im Brexit-Streit. Die Londoner "Times" hatte am Freitag unter Berufung auf Parteikreise berichtet, die nordirisch-protestantische DUP habe ihren Widerstand gegen eine mögliche Lösung im Brexit-Streit teilweise aufgegeben. Der Bericht wurde umgehend von der DUP dementiert. Knackpunkt ist die Frage, wie Grenzkontrollen zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland verhindert werden können. Falls dies nicht gelingt, wird ein Wiederaufflammen des Konflikts zwischen mehrheitlich katholischen Befürwortern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands und mehrheitlich protestantischen Loyalisten befürchtet.

Der irische Regierungschef Leo Varadkar sagte dem irischen Rundfunksender RTÉ am Freitag, die Verhandlungsteams beider Seiten seien in Kontakt. "Wir loten aus, was möglich ist", so Varadkar. Die zu überwindende Kluft sei aber noch sehr groß. Johnson zeigte sich bei seinem Auftritt in Nordengland "vorsichtig optimistisch", dass noch ein Deal möglich sei. Juncker sagte dem Deutschlandfunk am Freitag hingegen, er sei nicht optimistisch, was alternative Vereinbarungen zum sogenannten Backstop angehe, also zur Garantieklausel für eine offene Grenze. Er hoffe weiter auf Alternativvorschläge, so Juncker, aber "die Zeit wird knapp".

Johnson lehnt den im bisherigen Austrittsabkommen vereinbarten Backstop kategorisch ab. Er sieht vor, dass ganz Großbritannien solange einen gemeinsamen Außenzoll mit der EU gegenüber Drittstaaten beibehält, bis eine andere Lösung gefunden ist. Dadurch wären jedoch bilaterale Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und Drittländern wie den USA zunächst unmöglich. Unter anderem deshalb war das Abkommen drei Mal im britischen Unterhaus abgelehnt worden.

Spekuliert wird nun über einen Ausweg aus dem Brexit-Streit, demzufolge nur das verhältnismäßig kleine Nordirland eng an EU-Regeln gebunden bliebe. Dadurch wären jedoch Kontrollen für Waren notwendig, die aus Großbritannien nach Nordirland kommen. Das lehnte die DUP bisher strikt ab, von deren Stimmen die Minderheitsregierung der im Juli zurückgetretenen Premierministerin Theresa May im Parlament abhing. DUP-Brexit-Experte Sammy Wilson dementierte denn auch den "Times"-Bericht umgehend in einem BBC-Interview am Freitag. Es habe bloß einen Fortschritt in Form einer veränderten Einstellung gegeben, erklärte Wilson.