Seit 1855 hatte er fast ungebrochen über dem im Kolonialstil errichteten Sitz der britischen Gouverneure von Hongkong geweht. Als am 30. Juni 1997 schließlich der Union Jack in einer feierlichen Zeremonie eingeholt wurde, geschah dies zu den Klängen der melancholischen Dudelsackmelodie „Highland Cathedral“.


Das war nicht nur das erklärte Lieblingsstück von Chris Patten, dem 28. und zugleich letzten britischen Gouverneur von Hongkong, sondern auch die offizielle Hymne der Polizei der prosperierenden Finanzmetropole und Kronkolonie an der Südküste Chinas, die in der Nacht auf den 1. Juli 1997 Teil der Volksrepublik wurde.


Wer mit Pattens Kampf gegen die chinesischen Kommunisten zur Sicherstellung der Grundfreiheiten der Bürger Hongkong nach dem britischen Abzug unter dem Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“ vertraut ist, weiß dass dies kein Zufall war. Das Abspielen von Highland Cathedral durch die Marschkapelle der Hongkonger Polizei sollte ein letztes Mal symbolisch die Wichtigkeit einer politisch unabhängigen Justiz hervorheben.

Massenproteste


22 Jahre später steht das Justizsystem Hongkongs wieder im Mittelpunkt des Geschehens. Über eine Millionen Einwohner fanden sich seit Sonntag zu Massenkundgebungen auf den Straßen und Plätzen der Stadt zusammen, um gegen ein neues Auslieferungsgesetzes, das, laut Kritikern, erlauben würde, politische Gegner an die kommunistische Volksrepublik auszuliefern, zu protestieren.

Initiiert wurde das Gesetz im März von der Peking treu ergebenen Verwaltungschefin der Sonderverwaltungsregion, Carrie Lam, die es so schnell wie möglich vom nicht frei gewählten Hongkonger Parlament, dem Legislativrat, trotz Protesten absegnen lassen will. Konkreter Anlassfall ist der Mord an einer Hongkonger Studentin in Taiwan durch ihren Freund im letzten Jahr. Der mutmaßliche Mörder, der sich mittlerweile wieder in Hong Kong befindet, kann nicht an die taiwanesischen Behörden ausgeliefert werden. Denn die zwischen der Kronkolonie Hongkong und der Volksrepublik China in den 1980er und 1990er Jahren ausgehandelten Autonomievereinbarung, das sogenannte Grundgesetz, das die demokratischen Grundrechte der Bürger Hongkongs bis 2047 sichern soll, beinhaltet keine Auslieferungsvereinbarung mit Taiwan oder China.


Das hat einen guten Grund. Chinas Justizsystem, gelenkt von der kommunistischen Partei, ist nicht unabhängig und verfolgt politisch Andersdenkende. Menschenrechtsorganisationen zufolge sind Folter und Misshandlungen an der Tagesordnung. Schon jetzt verschwinden immer wieder politische Aktivisten, teils spurlos, aus Hongkong um, im günstigsten Fall, in chinesischen Gefängnissen wieder aufzutauchen. Einer der aufsehenerregendsten Fälle war die Entführung von fünf Mitarbeitern einer regime-kritischen Buchhandlung durch kommunistische Handlanger im Jahr 2015. Bis heute kehrte nur einer der fünf nach Hongkong zurück. Das Los der anderen ist ungewiss.


Demokratische Aktivisten sehen den Vorstoß Lams nur als Vorwand. Seit 1997 führen sie ein Rückzugsgefecht gegen die Diktatur Pekings. 2003 errangen sie einen Teilsieg, als die Regierung eine Gesetzesergänzung zur nationalen Sicherheit (Artikel 23), welche die Presse-, Versammlungs-, und Meinungsfreiheit beschnitten hätte, abblies. Hunderttausende gingen damals auf die Straße.


Weniger erfolgreich verliefen dreimonatige Proteste 2014 gegen einen Beschluss des chinesischen Nationalen Volkskongresses, die Wahl des Hongkonger Verwaltungschefs durch ein Auswahlverfahren zu beeinflussen. Die Spitzen dieser sogenannten Regenschirm-Bewegung wurden nach Abflauen der Proteste inhaftiert und die von Peking favorisierte Kandidatin, Carrie Lam, 2017 zur Regierungschefin Hong Kongs gewählt.


Lam zeigt sich bis dato unbeeindruckt von den aktuellen Protesten. Der von Peking treuen Kräften dominierte Legislativrat soll nun am 20. Juni über den Gesetzesentwurf abstimmen. Sollte Lam sich dem Druck der Straße nicht beugen, steht es außer Zweifel, dass das Gesetz in Kraft treten wird. Unterstützt wird Lam von Chinas Propagandamaschinerie, die auf Hochtouren läuft und die USA und andere westliche Länder der Aufwiegelung der Bürger Hongkongs bezichtigt.

Nur eine interne Angelegenheit?

Peking sieht Hongkong strikt als interne Angelegenheit, trotz des Beharrens der Briten dass das ein internationales Abkommen, die chinesisch-britische gemeinsame Erklärung zu Hongkong aus dem Jahre 1984, den politischen Handlungsspielraum der Chinesen in der Stadt einschränkt. Doch die Briten haben längst keinen realen Einfluss mehr auf ihre ehemalige Kronkolonie.


Die Tage des politischen Grundsatzes „ein Land, zwei Systeme“ sind daher langfristig gezählt. China wird seine Politik des langsamen Aushöhlens des Grundgesetzes fortsetzen, wie auch immer die jetzigen Proteste ausgehen werden. Die Bürger Hongkongs können diesen Prozess nur verzögern, aber nicht aufhalten. Die de-facto politische Gleichschaltung der ehemaligen Kronkolonie mit dem Festland wird wohl vor 2047 geschehen.