Claude Voisin hat lange auf diesen Moment gewartet. Zu erzählen, wie er war, dieser Krieg, hier in der Normandie. Was hatten die Eltern erlebt, was erzählt? Wie war es für ihn, den heute 74-Jährigen, aufzuwachsen in Saint-Lô, der „Hauptstadt der Ruinen“, wie die Stadt genannt wurde, nachdem sie von den Alliierten weggebombt worden war? Claude, ein kleiner, gebeugter Mann, stellte Tassen auf den Tisch und erzählte als Erstes vom Tod seiner Schwester: Ginette war das erste zivile Opfer im 600-Seelen-Dorf Carantilly, 15 Kilometer westlich von Saint-Lô, sie starb mit kaum vier Monaten.

Claudes Mutter war Bahnwärterin, die Alliierten bombardierten Zuglinien und Bahnhöfe, am 6. Juni um 20.05 Uhr auch das erste Mal Saint-Lô. „Sie wollten die Zivilbevölkerung mit Flugblättern warnen“, erzählt Claude, „aber sie warfen sie aus zu großer Höhe ab. Sie landeten auf den Feldern.“ Ginette war am 23. Februar zur Welt gekommen, das erste Kind von Marcelle und Georges Voisin, 100 Tage alt starb sie durch einen Bombensplitter, getötet von den Befreiern. Auf dem „monument aux morts“ steht ihr Name in goldenen Lettern. Wenn in Carantilly der Kriegsopfer gedacht wird, sind Claude, sein Bruder, sind Kinder und Enkelkinder versammelt. Mit 93 hat seine Mutter Marcelle das letzte Mal vor fünf Jahren am 70. Jahrestag teilgenommen.

Vermintes Terrain

Claude hat seine Hütte am Ärmelkanal seit den Fünfzigerjahren. Sie hatten damals dem Bauern ein paar Quadratmeter Feld abgekauft. Etwa 20 solcher Lauben stehen bis heute am Strand. Eine davon war vor Jahren zu verkaufen. In der Annonce stand: „Austernfischerhütte“. Sie lag zwischen den Landungsstränden Juno und Omaha. „CAVOK“ stand auf dem Brett, mit dem ein Fenster verbarrikadiert wird, wenn der Großstädter die Wochenendidylle wieder verlässt. „Clouds and visibility ok“, heißt das in der Fliegersprache. Der Himmel war frei hier, selbst wenn die Wolken mal tief hingen, die Sicht mehr als o. k. Vor der Hütte das Meer, dahinter ein Rinnsal namens „Le Rhin“ und dann die bocage mit weidenden Kühen. Es gab und gibt bis heute keinen Strom. Das war der eigentliche Luxus an dieser Hütte: Sie lag außerhalb der Welt. Aber mitten in der Geschichte, auf historisch vermintem Terrain.

Es war die Nachbarhütte von Claude. Sie wurde die Hütte der Autorin dieses Textes. Was mussten die Nachbarn vor 16 Jahren gedacht haben? Eine deutsche Familie, wo Wehrmachtsoldaten stationiert waren, in ihren Bunkern saßen und hofften, dass die Landung der Alliierten in Pas-de-Calais stattfinden würde, nicht vor ihrer Nase. Und nun spielten deutsche Kinder in den Dünen. Die Nachbarn waren herzlich.

Schröder war als erster deutscher Kanzler eingeladen

Damals lag der D-Day 60 Jahre zurück. Gerhard Schröder war Kanzler und der erste, der zu den Feierlichkeiten eingeladen worden war. Sein Vorgänger Helmut Kohl hatte bei den Vorbereitungen des 50. Jahrestags auf einen Zettel geschrieben: „Wir wollen nicht eingeladen werden.“ Das „nicht“ soll er zwei Mal unterstrichen haben. Kohl war 14, als er erfahren hatte, dass sein Bruder Walter in der Normandie lebensgefährlich verletzt worden war. Die erste Zeremonie zum 40. Jahrestag hatte US-Präsident Ronald Reagan übernommen. Vor ihm saßen zahlreiche Veteranen. „Why?“, fragte Reagan nachdrücklich, ganz der begabte Schauspieler, „why did you do it?“ Er gab die Antwort selbst: „Weil die Demokratie es wert ist, für sie zu sterben.

Vielleicht ist das der Grund, warum fünf Millionen Touristen jährlich an die Landungsstrände kommen. Die Normannen spielen mit. Sie hissen Fahnen in ihren Vorgärten. An den Fenstern hängen Wimpel. In den Auslagen der Bäckereien robben sich Plastiksoldaten durch Torten oder verschanzen sich hinter Croissants. Die Erinnerungsindustrie floriert und zieht neue Kundschaft an.

Historischer Freizeitpark

Mehr oder minder professionelle Privatmuseen sind in Schuppen und Lagerhallen entstanden. Ein Historiker sprach von einer Art „Freizeitpark“, in dem man es mit den Fakten der Geschichte nicht immer genau nimmt. Diese Einrichtungen, die irgendwo zwischen Heldengeschichte, Flugsimulator und Militariakitsch ihre Nische gefunden haben, wachsen stetig: Wer Anfang Juni über die Landstraßen der Normandie fährt, muss das Gefühl haben, Operation Overlord war gestern. Touristen tragen alte Uniformen, rasieren sich die Haare ab, setzen Opas Brille auf und fahren mit Originaljeeps, Motorrädern oder Lastern. Nazis sieht man nicht unter ihnen. Das Narrativ, das die Erinnerungstouristen anzieht, ist das einer Heldenerzählung. Es ist so übermächtig, dass die Schattenseite schlicht ausgeblendet wurde: die Zerstörung französischer Städte durch die Bomben der Alliierten, die hohe Zahl der zivilen Opfer. Die Franzosen haben geschwiegen. Es war der Preis ihrer Freiheit. „Es war Krieg“, sagt Claude, „und wer Omelette macht, muss Eier zerschlagen.

„Es war die Apokalypse"

Leopoldina Beuzelin, eine Frau von 86 Jahren, die blauen Augen türkisfarben geschminkt, das kurze Haare rotblond gefärbt, der Geist hellwach, kann sich erinnern, als wäre es gestern gewesen. „Es war die Apokalypse“, sagt sie, als die Bomben niedergingen. „Wir saßen am Tisch und löffelten Suppe, auf einmal fing alles an zu wanken und zu beben.“ Sie erlebte nicht nur einen Bombenangriff, es waren Wellen über Tage. Zwölf Jahre war sie. Aber die Explosionen, die Angst, alles ist präsent.

60.000 Tote durch alliierte Bomben

Beuzelin gehört mit ihren drei Geschwistern, der Mutter, einer jungen Witwe, zu den Zivilisten, derer niemand gedenkt bei den aktuellen Feierlichkeiten. Sie gehört zu denen, die zu keiner Zeremonie eingeladen werden, nicht einmal in Saint-Lô. Ihr Leid ist lange totgeschwiegen worden, weil es nicht passte in die schöne Geschichte der Befreiung. Es störte das Narrativ, dass 60.000 bis 70.000 Franzosen unter den Bomben der Alliierten gestorben waren, 8000 in der Normandie, 3000 am D-Day. Dutzende Städte wurden zerstört, oft grundlos.

„Die Zerstörung ist total"

Von Saint-Lô, das vor dem Krieg 20.000 Einwohner zählte, war kaum etwas übrig geblieben: 95 Prozent zerstört. Ein Kriegsreporter schrieb: „Die Zerstörung ist total, Saint-Lô existiert nicht mehr.“ Wer heute die Stadt besucht, findet die typische Nachkriegsarchitektur vor. Auf dem berühmten Felsen der Stadt nur eine Inschrift: Zum Gedenken der Opfer.

Leopoldina sitzt in einem Nachkriegsbungalow und erinnert sich an die Ratten in den Ruinen, an die Kadaver der Menschen, an Arme und Beine, die sie im Schutt fanden, auch an die SS-Soldaten, die besoffen von Calvados und mit abgerissenen Gliedmaßen aus dem Kampf wiederkamen: „Wir hatten Angst vor ihnen, aber am Ende schreckliches Mitleid.“

Endlich über Wunden sprechen

„Der Normanne ist hart im Nehmen“, steht in einem der Sonderhefte, wie sie massenweise zum Kauf feilgeboten werden. „Aber die ‚Bombardierung der Freunde‘ im Sommer 1944“, heißt es da, „war etwas anderes. Sie ist immer noch nicht verdaut.“ Das Heft, das dem „Blutigen Sommer“ gewidmet ist, hätte es bis vor Kurzem nicht geben können. Es markiert das Ende eines Tabus: 75 Jahre später ist es möglich, über Wunden und Verluste zu sprechen, die Befreier zu kritisieren.

Seit der Jahrtausendwende haben sich eine Handvoll französischer, britischer und ein amerikanischer Historiker mit der Frage beschäftigt: War das nötig, mussten sie den Tod so vieler Zivilisten in Kauf nehmen? Im Buch „Jenseits des Strandes“ weist Stephen Bourque nach, dass die Luftwaffenkommandanten gegen die Bombardierung waren, aber US-Präsident Dwight D. Eisenhower sich durchgesetzt hat. Die Details, die Bourque aus den Militärarchiven zieht, belegen, dass die Angriffe „dramatisch ungenau“ waren, der Plan falsch.

Ein echtes Kriegsverbrechen

Bourque, früher Professor an der Militärhochschule von Fort Leavenworth in Kansas, klappert derzeit die Kriegsschauplätze ab und redet sich in Fahrt: „Die Brücken bombardieren? Das haben sie ziemlich vermasselt. Das Transportsystem zerstören? Der Plan war ungeheuerlich dumm. Die Städte am D-Day bombardieren? Das war komplette Unfähigkeit und kriminell. Ein echtes Kriegsverbrechen.“ Bourque hat sich seine Wortwahl wohl überlegt. „Es wurde als militärische Notwendigkeit verkauft. In letzter Minute haben sie den Plan geändert, die Widerstandsnester an der Küste zu bombardieren. Gleichzeitig am Strand zu landen und im Hinterland die Städte zu bombardieren, das war ein Widerspruch“, schließt Bourque. Die Amerikaner kappten so ihre eigenen Versorgungslinien. „Sie wollten den Feind bombardieren, der in Freundesland sitzt. Wie macht man das? Sie hatten in Wahrheit keine Doktrin.“

Leopoldina hat interessiert im Buch geblättert und sagt: „Natürlich war das ein Kriegsverbrechen. Sie hätten das nicht tun dürfen.“ Sie erinnert sich, wie sie mit ihren Schwestern Butterblumen am Ufer der Vire pflückte. Eine Gruppe deutscher Soldaten war auch da, einer sprach Französisch und fragte die drei Mädchen nach ihrem Alter. Dann erzählte der Wehrmachtssoldat, dass seine beiden Töchter genauso alt seien und auf ihn warteten. Tränen liefen dem Vater übers Gesicht, erinnert sich Leopoldina, 75 Jahre später muss sie selbst weinen, gemeinsam mit einer Deutschen, über diesen fernen Krieg, der viele Helden zählte und dessen Opfer zahllos sind.