Russland habe keine Bereitschaft gezeigt, seine Position zu ändern, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag nach den Gesprächen von Vertretern der Bündnisstaaten mit dem russische Vizeaußenminister Sergej Rjabkow in Brüssel.

Die USA und die NATO-Partner seien jedoch weiter überzeugt, dass Russland den INF-Vertrag mit neuen Marschflugkörpern verletze.  Die USA hatten Russland zuletzt mit Rückendeckung der NATO-Partner ein Ultimatum von 60 Tagen gestellt. Demnach werden sie sich vom 2. Februar an nicht mehr an den Vertrag gebunden fühlen, wenn Russland nicht bis dahin die Zerstörung seiner neuen Marschflugkörper zusagt. Diese sollen nach Angaben aus den USA mindestens 2.600 Kilometer weit fliegen können und wären damit in der Lage, nahezu alle Hauptstädte in Europa zu treffen. Im Vertrag sind alle Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern verboten.

Dass Russland in der Auseinandersetzung doch noch einlenkt, gilt als ausgeschlossen. Die Regierung in Moskau weist die Forderungen und Vorwürfe der USA zurück. So gibt sie die maximale Reichweite ihres Marschflugkörpers mit 480 Kilometern an, was vertragskonform wäre. Zudem unterstellt Moskau den USA, die Vorwürfe nur als Vorwand zu nutzen, um offiziell ein neues Rüstungsprogramm starten zu können. Die US-Militärs beklagen sich seit längerem darüber, dass der aus der Zeit des Kalten Krieges stammende INF-Vertrag nur Amerikaner und Russen, aber nicht aufstrebende Militärmächte wie China bindet.

Zurück in die Vergangenheit

Durch das mögliche Aufkündigen des zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossenen INF-Abrüstungsabkommens über nukleare Mittelstreckensysteme (Intermediate Range Nuclear Forces) könnte nach 28 Jahren die Atomrakete wieder ihren Weg nach Europa finden. Doch mit dem Vernichten der letzten Rakete 1991 scheint das Konzept der nuklearen Abschreckung auch aus den Köpfen Europas verschwunden zu sein.

Europäische Städte im Visier?

Russland stationiert auf Stützpunkten in der westlichen Ostsee-Exklave Kaliningrad sowie am Testgelände Kapustin Yar im Süden des Landes Raketen. Bewahrheitet sich der Vorwurf der USA und der NATO, Moskau produziere entgegen den Bestimmungen des INF-Vertrags bereits wieder landgestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern, könnte Moskau europäische Städte binnen weniger Minuten angreifen. Der Kreml bestreitet zwar nicht mehr die Existenz der Raketen, allerdings würden diese nur über eine Reichweite von unter 500 Kilometer verfügen.

"Düstere Aussichten"

Nach der Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump läuteten bei den europäischen NATO-Partnern entsprechend die Alarmglocken. Jens Stoltenberg, Generalsekretär des westlichen Militärbündnisses, sprach von einer "düsteren Aussicht" für 2019. Durch das Ende des Vertrags würde ein Grundpfeiler der europäischen Sicherheit einreißen. Zwar seien, abgesehen von den USA, keine weiteren NATO-Staaten Vertragspartner, aber "letztlich gehe es um Europa, weil diese Marschflugkörper nur europäische Städte erreichen" könnten.

NATO stellt sich hinter USA

Wenige Wochen nach dem Vorstoß Washingtons stellte sich die NATO geschlossen hinter ihr Mitgliedsland: Russland verstoße gegen den INF-Vertrag, Moskau müsse "sofort und nachweisbar wieder volle Vertragstreue herstellen". Dafür gab Trump dem Kreml bis Anfang Februar 2019 Zeit. Der Ball liegt nach Ansicht der NATO auf jeden Fall bei Moskau. Verhandlungen im Jänner zwischen den USA und Russland blieben erfolglos. Der Kreml wirft unterdessen den USA ebenfalls Vertragsbruch vor - Washington stationiere Raketensysteme im Rahmen des NATO-Schutzschirms in Rumänien.

Aufrüstung befürchtet

Seit 1991 gibt es wegen des INF-Abkommens offiziell keine solchen Mittelstreckenraketen mehr in Europa und die Aussicht auf eine neue Atomaufrüstung beunruhigt schwer. "Eine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen würde in Deutschland auf breiten Widerstand stoßen", betonte der deutsche Außenminister Heiko Maas. Ist das gegen Ende des Kalten Kriegs im Jahr 1987 zwischen US-Präsident Ronald Reagan und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow erzielte Abrüstungsabkommen bald Geschichte, wird es Experten zufolge notgedrungen zu einem Aufrüsten mit Mittelstreckenraketen in Europa kommen.

Wieder mehr Atomsprengköpfe?

Aber das ist nicht die einzige Befürchtung: Die derzeit auf 150 bis 180 geschätzten US-Atomsprengköpfe, die in Deutschland, Belgien, den Niederlande, Italien und der Türkei gelagert seien, seien derzeit für den Abwurf durch Kampfflugzeuge vorgesehen, erklärte Nadja Schmidt von der Anti-Atomkampagne ICAN Austria gegenüber der APA. Die Aufkündigung des INF-Vertrags und die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa könnten also auch mehr Atomsprengköpfe in Europa bedeuten. Bereits jetzt stehen Schmidt zufolge rund 80 Kilometer von Österreich entfernt im italienischen Aviano mehrere Atomsprengköpfe zum Einsatz bereit. Frankreich und Großbritannien sind die einzigen Atommächte in der Europäischen Union.

Streit um Nachrüstungsbedarf

Das Konzept der nuklearen Abschreckung verschwand offenbar nach dem Vernichten der letzten Mittelstreckenrakete aus den Köpfen Europas. Eine von der "Welt am Sonntag" zitierte Studie des European Council on Foreign Relations zeigt, dass trotz "wachsender strategischer Instabilität" nur einige wenige Länder wie Polen und Rumänien von dieser Strategie überzeugt seien. Klar gegen Nachrüstung sprechen sich Deutschland und die Niederlande aus. Zu den beiden neutralen Staaten, Österreich und Irland, heißt es in der Studie: "Sie sind stolz auf ihre Anti-Atompolitik." Vor allem Österreich würde "aktiv und unnachgiebig" gegen Atomwaffen ankämpfen.

(Noch) kein Kalter Krieg

Dass das Konzept nuklearer Abschreckung in Europa in den Hintergrund gerückt ist, wundert Brigadier Walter Feichtinger, Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement in Wien, nicht. Im Jahr 1991 wurde die letzte Rakete vernichtet - "bis jetzt, das ist eine Generation, auch eine Politikergeneration", die mit dieser Art von Gefahr "keine Erfahrungen hätte und jetzt wieder darauf aufmerksam gemacht wird". Von der "Rückkehr des Kalten Kriegs" will der Militärexperte aber noch nicht sprechen. Es fehle der "große ideologische Gegensatz, die Konkurrenz zweier Systeme" - Kapitalismus gegen Kommunismus, sagte Feichtinger, und er fügte hinzu: "Das sehe ich heute in der Form nicht, heute geht es um Macht und Einfluss."

Streit um NATO-Armee

Der Schritt Trumps kommt zudem inmitten einer Debatte um die europäische Sicherheitspolitik. Der US-Präsident fordert seit seinem Amtsantritt seine NATO-Partner vehement auf, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Deutschland und Frankreich betonten in den vergangenen Wochen erneut ihren Wunsch nach einer EU-Armee. Neben der NATO, die Parallelstrukturen befürchtet, können sich auch mehrere andere europäische Länder mit der Idee nicht anfreunden. Österreich lehnt den Vorschlag ebenfalls ab.