Herr Ministerpräsident, „Il Buon Governo“, „Die gute Regierung“, heißt ein berühmtes Fresko von Ambrogio Lorenzetti im Rathaus von Siena. Gut zu regieren, ist das in unseren Krisenzeiten überhaupt möglich?
WINFRIED KRETSCHMANN: Ich bin fest überzeugt davon. Die Frage ist, welchen Maßstab man anlegt. Gelingt es der Politik, dass die Menschen das tun, was schon in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 steht, nämlich nach ihrem Glück zu suchen? „The pursuit of Happiness“. Oder glaubt man, der Staat müsse die Menschen glücklich machen? Dann kann man nicht gut regieren. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das kann nur so enden, dass alle frustriert sind.
Was folgt für Sie daraus?
Der Staat kann nur die Bedingungen schaffen, unter denen jeder sein Glück finden kann. Er muss für die Grundwerte der Demokratie sorgen, für Friede, Freiheit, Sicherheit und dafür, dass jeder, egal woher er kommt, dieselben Chancen hat. Aber die Chancen ergreifen muss letztlich immer der Einzelne. An die Politik werden heute Erwartungen gestellt, die unerfüllbar sind. Die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch hat einmal sehr schön gesagt, Politik biete einen Leerraum, in den wir unsere Hoffnungen und Überzeugungen, unseren Glauben und unser Tätigwerden einbringen können, ohne dass uns jemand daran hindert. Und das ist letztlich der Sinn von Politik: Freiheit.
Diese Freiheit ist aber bedroht. Klimawandel, Globalisierung, Terror, Migration und neuer Nationalismus pflügen die Welt um. Was geschieht um uns herum, mit uns?
Wir leben in Zeiten dramatischer Umbrüche. Die Welt hat sich immer gewandelt. Aus meiner Heimat, der Schwäbischen Alb, sind im 19. Jahrhundert die Leute in Scharen aus Armut ausgewandert. Als 1648 der Dreißigjährige Krieg mit dem Westfälischen Frieden beendet wurde, dachten die Menschen, dieser würde ewig währen. Aber bis zur Gründung der EU gab es weitere 49 Kriege in Europa. Krieg war der Normalfall und ist es in vielen Teilen der Welt bis heute. Wir vergessen das, weil wir in Kerneuropa seit 70 Jahren in Frieden leben. Der große Unterschied zu früher ist, dass die Umwälzungen durch die Digitalisierung so rasant erfolgen und wir am Klimawandel zum ersten Mal sehen, was für dramatische Folgen für unsere Lebensgrundlagen es hat, wenn wir die Erde systematisch ruinieren.
Der Friede gilt als selbstverständlich. Bei vielen überwiegt das Gefühl, die Welt entgleite ihnen. Geht es der Politik ähnlich?
Ich sehe zwei Einschnitte. Der eine war die Finanzmarktkrise, der zweite die große Flüchtlingswelle 2015. Beide Male haben die Leute den Eindruck gewonnen, der Staat sei nicht mehr Herr der Lage. Das hat starke Ängste hervorgerufen und ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit. Vom Staat wird erwartet, dass er Sicherheit bietet. Wenn nun überall Rechtspopulisten ins Kraut schießen, die an die niedrigen Instinkte appellieren und einfache Lösungen haben, ja, wenn an der Spitze der USA ein Präsident steht, der sich so verhält, wie wir unseren Kindern beibringen, dass sie sich nicht benehmen dürfen, so ist das die unmittelbare Folge dieses gefühlten Kontrollverlusts.
Die Populismusschelte gehört heute zum guten Ton. Kann man das Phänomen nicht ganz nüchtern als Versuch sehen, die alten Sicherheiten zurückzugewinnen?
Natürlich. Aber gerade das ist ein Irrtum. Die Briten steigen mit dem Spruch „Take back control“ aus der EU aus. In Wahrheit verlieren sie die Kontrolle vollends. Was können sie allein gegen Klimawandel, Terror und Massenmigration ausrichten? Und wie wollen sie ökonomisch mit den großen Mächten China und den USA mithalten? Das gelingt uns nur, wenn wir als Europäer zusammenstehen.
Unsere westliche Demokratie bröckelt. Wie konnten wir uns in ihrer Robustheit so täuschen?
Der Lack der Zivilisation ist dünn. Sobald es kriselt, kommen in uns archaische Muster hoch. Die Fremdenfeindlichkeit zählt dazu. Sie ist dem Menschen evolutiv einprogrammiert, allerdings auch die Neugier auf das Fremde. Dass der Fremde dein Nächster ist, impft erst das Christentum der Zivilisation ein. Plötzlich kommt etwas Universales in die Welt und verändert sie. Aber es sind keine biologischen Gene, sondern kulturelle, die man leicht wieder verlieren kann. Das weiß jeder Vater, jede Mutter, das wissen wir alle. Wir müssen immer wieder um unsere zivilisatorischen Errungenschaften kämpfen.
Werben Sie deshalb für einen neuen Konservatismus?
Heute passieren Dinge, die man nicht für möglich gehalten hätte. Thomas Jefferson, einer der Gründerväter der USA, wurde einmal gefragt, ob er lieber in einem Land mit schlechter Regierung, aber freier Presse leben wolle oder umgekehrt? Er hat keine Sekunde gezögert und Ersteres gewählt. Heute führt der Präsident der USA, also des Landes, das die Meinungsfreiheit mit erfunden hat, einen ideologischen Krieg gegen die Medien.
Was sind die Werte, auf die wir uns verlassen sollten?
Ein wichtiger Wert ist es, nicht blindgläubig Autoritäten, Meinungen oder Verschwörungstheorien hinterherzulaufen. Bediene dich deines eigenen Verstandes! Das hat schon Sokrates gefordert. Ich denke aber auch an das Prinzip von Maß und Mitte, wie wir es bei Aristoteles finden. Er hat so Tugend definiert. Man braucht Mut in der Politik, aber eben Mut, der nicht zur Verwegenheit wird. Man muss besonnen sein, aber nicht feige. Oder wie wichtig sind doch Vertrauen und Verlässlichkeit für unseren Umgang miteinander!
Ein Altachtundsechziger und ehemaliger Maoist singt das Hohelied der Tugend. Wie das?
Ich bin siebzig und habe viel Lebenserfahrung auch im Politischen gesammelt. Ein Ergebnis ist das Nachdenken über die eigenen Fehler. Als ich unlängst an der Universität eine Rede gehalten habe, musste ich daran denken, wie wir in den 68ern Vorlesungen gesprengt haben. Das war barbarisch! Mit den Jahren ist mein Respekt vor gewissen Überzeugungen gestiegen, die die Menschheit schon immer für richtig gehalten hat. Mir geht es nicht um Nostalgie, nicht darum, dass früher alles besser war. Unsinn! Worum es mir geht, ist, das zu Bewahrende aus der politischen Gesäßgeografie zu lösen: Rechts hocken die Konservativen, links die Progressiven. Das sind große Schätze der westlichen Zivilisation, die wir durch den Wandel tragen müssen.
Was würde der junge Kretschmann zum alten sagen?
Er würde sich mit ihm höchst kritisch auseinandersetzen. Radikale Verirrungen kommen ja immer daher, dass man einen Wert verabsolutiert. Für uns war das damals die Gleichheit. Sie ist ein wichtiges Prinzip. Nur wenn man es nicht mit Demokratie und Freiheit in Einklang bringt, wird daraus Fanatismus.
Wie geht Ihre Idee eines wertegebundenen Konservativismus mit der Migration zusammen?
Dass der Fremde auch der Nächste ist, wissen wir - wie gesagt - seit Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Das ist also eine sehr konservative Erkenntnis. Es ist unsere Pflicht, Menschen aufzunehmen, die vor Krieg oder Verfolgung fliehen. Es heißt aber auch, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Wir müssen also so helfen, dass uns das nicht überfordert. Jene, die aus Perspektivlosigkeit zu uns kommen, können wir nur zu einem bestimmten Maß aufnehmen. Das müssen wir klar auseinandersortieren, ohne mit schlechtem Gewissen herumzulaufen. Niemals kann der Mensch allen helfen. Wir müssen aber etwas tun, um die Fluchtursachen vor Ort in Afrika zu bekämpfen. Wichtig ist, dass wir uns nicht von Ängsten leiten lassen, sondern von der Vernunft. Dann können wir diese schwere Herausforderung meistern, ohne dass unser Gemeinwesen in Gefahr gerät.
Sie sind gläubiger Katholik. Davon gibt es immer weniger in der Politik. Fühlen Sie sich als Exot?
Eigentlich nicht. Das ist eher Ausdruck der enormen Säkularisierung und ein Problem der Kirchen und der Glaubenden. Paulus sagt: Gib jeder Zeit Rechenschaft über deine Hoffnung. Das heißt: Der Glaube muss im Horizont der modernen Welt plausibel erklärt sein. Da sind grobe Mängel entstanden. Insofern wundert es mich nicht, dass die katholische Kirche mit den jüngsten Missbrauchsskandalen an den Rand des Zusammenbruchs getrieben wird. Was hat das mit der Nachfolge von Jesus zu tun, ob ich ein Kondom benütze? Wer so eine rigorose Sexualmoral in die Welt setzt, fällt tief, wenn er ihr nicht genügt und Verfehlungen sogar vertuscht. Das sind Brüche zur modernen Welt. Davon gilt es, sich zu befreien. Dogmen sind wie Straßenlaternen, hat der große Theologe Karl Rahner einmal gesagt. Sie sollen unseren Weg beleuchten. Aber nur Betrunkene halten sich daran fest.