Die Türkei hat vor einem geplanten Großangriff der syrischen Regierung auf die Rebellenhochburg Idlib weiteres Kriegsgerät in die Grenzregion gebracht. Acht Frachtfahrzeuge beladen mit Panzern und schweren Geschützen hätten die Grenzprovinz Kilis passiert, meldete die Zeitung "Hürriyet". Idlib liegt nur etwa 30 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt.

Die Türkei unterhält in der Provinz Beobachtungsposten und ist Schutzmacht einer De-Eskalationszone. Die Panzer habe das Militär auf die andere Seite der Grenze gebracht. Sie sollen laut Quellen aus Sicherheitskreisen helfen, mögliche Flüchtlingswellen in Richtung Türkei aufzuhalten, berichtete "Hürriyet" weiter. Die Fahrzeuge seien mit Systemen ausgestattet, mit denen sich Migrationsbewegungen beobachten ließen. Die Türkei beherbergt schon mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge. Dem Bericht zufolge hat sie auf der syrischen Seite auch das große Atme-Flüchtlingslager weiter ausgebaut.

Russische Kriegsflugzeuge flogen am Vormittag eine Reihe von Luftangriffen gegen Idlib. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von etwa 30 Bombardements. Auch ein Kommandant der Rebellengruppe der Nationalen Befreiungsfront (NLF) bestätigte Angriffe auf Dörfer in Idlib.

Letzte Hochburg des syrischen Al-Kaida-Ablegers

Die Region im Nordwesten von Syrien ist das letzte große Gebiet im Bürgerkriegsland, das noch von Rebellen beherrscht wird. Dominiert werden sie von dem Al-Kaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS), der früheren Al-Nusra-Front. Syrien hat Truppen zusammengezogen und droht mit einem Angriff. Der Westen warnt angesichts von etwa drei Millionen Zivilisten in Idlib vor einer humanitären Katastrophe.

Hajat Tahrir al-Scham (HTS) hat schon viele Namen gehabt, doch für ihre Feinde ist die Jihadistenallianz in der Provinz Idlib bis heute der Ableger von Al-Kaida in Syrien geblieben. Nicht nur das syrische Regime und seine Verbündeten Iran und Russland betrachten die HTS-Kämpfer als Terroristen, auch die USA, die UNO, die EU und die Türkei.

WER IST HAJAT TAHRIR AL-SHAM?

Die Allianz wurde 2017 von einer Reihe von Jihadistengruppen gegründet, darunter die Fatah-al-Sham-Front. Diese trug bis zu ihrer Umbenennung im Juli 2016 den Namen Al-Nusra-Front und war der syrische Ableger des internationalen Terrornetzwerks Al-Kaida. Zwar distanzierte sich die Gruppe von Al-Kaida, als sie im Juli 2016 ihren Namen wechselte. Für ihre Gegner bleibt HTS aber Al-Nusra und der Ableger von Al-Kaida.

WO IST HTS VOR ALLEM PRÄSENT?

Das Bündnis beherrscht etwa 60 Prozent der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens, nachdem es vor einem Jahr in Kämpfen rivalisierende islamistische Rebellengruppen wie Ahrar al-Sham verdrängt hatte. Früher war HTS auch in anderen Rebellengebieten bei Damaskus und in Südsyrien präsent, doch verlor sie diese Stellungen, als ihre Kämpfer nach der Einnahme der Gebiete zusammen mit anderen Rebellen nach Idlib gebracht wurden.

WIE STARK IST DAS BÜNDNIS?

HTS hat verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 10.000 und 60.000 Kämpfer unter Waffen. Sie gelten als gut organisiert und kampferprobt. Die große Mehrheit der Kämpfer sind Syrer, doch rund 20 Prozent von ihnen sollen Ausländer sein, darunter viele Tschetschenen und Zentralasiaten. Die Gruppe finanziert sich aus Steuern und Zöllen, welche die von ihr eingerichtete zivile Verwaltung von Händlern und auf Einfuhren aus der Türkei erhebt.

WER SIND DIE GEGNER VON HTS?

HTS war in Idlib lange mit islamistischen Rebellengruppen wie Ahrar al-Sham und Nureddin al-Sinki verbündet, doch brachen die Jihadisten 2017 mit ihnen und vertrieben sie aus der Provinzhauptstadt Idlib und anderen Gebieten. Anfang 2018 schlossen sich ihre beiden Rivalen mit Unterstützung der Türkei gegen HTS zusammen, bevor sie Anfang August mit vier weiteren Rebellengruppen die Nationale Befreiungsfront bildeten.

WIE IST DAS VERHÄLTNIS ZUR IS-MILIZ?

Anders als die transnational ausgerichtete Jihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) haben sich die Al-Nusra-Front und ihre Nachfolger stets auf den Kampf gegen Machthaber Bashar al-Assad konzentriert und keine Anschläge im Ausland organisiert. Die IS-Miliz verübte wiederholt Attentate auf HTS-Führer und lieferte sich in Idlib, Raqqa und Deir ez-Zor mit ihrem Rivalen heftige Kämpfe, doch ist sie heute geschwächt.

WELCHE ZUKUNFT FÜR DIE ALLIANZ?

Ende August bekräftigte der HTS-Anführer Abu Mohammed al-Jolani die Entschlossenheit seiner Allianz, jeden Angriff auf Idlib zurückzuschlagen, und warnte seine Kämpfer, allein der Gedanke an Kapitulation sei "ein Akt des Verrats". Die Türkei versuchte vergeblich, die Allianz zur Selbstauflösung zu bewegen, um eine Offensive abzuwenden. Da die Verhandlungen scheiterten, erklärte Ankara die Allianz offiziell zur Terrororganisation.

HAT DAS BÜNDNIS UNTERSTÜTZER?

Nein. Zwar gab es in der Vergangenheit Vorwürfe, die Türkei oder Katar hätten die Al-Nusra-Front unterstützt, doch heute sind sich die wichtigsten ausländischen Parteien einig, dass es sich bei HTS um eine Terrorgruppe handelt. Wenn es Waffenruhen in Syrien gab, blieb das Bündnis stets davon ausgenommen. Im Fall einer Offensive durch die syrische Regierung und ihre Verbündeten kann HTS daher kaum mit Unterstützung rechnen.