Die Krankenhäuser sind beschädigt, die Anrainer auf Hilfsgüter angewiesen und die Fluchtrouten in die Türkei blockiert: Wenn die syrische Regierung ernst macht mit einer Offensive auf die Rebellenbastion Idlib, droht dort eine humanitäre Katastrophe.

Hilfsorganisation fürchten eine Wiederholung des Szenarios in Homs, Aleppo oder Ost-Ghouta, wo Machthaber Bashar al-Assad systematisch die zivile Infrastruktur zerstören ließ, bevor er die Rebellenhochburgen schließlich einnahm.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich kürzlich "zutiefst besorgt über das wachsende Risiko einer humanitären Katastrophe im Fall einer umfassenden Militäroperation in Idlib". Auch der UNO-Hilfskoordinator John Ging warnte, eine Offensive werde im schlimmsten Fall eine "humanitäre Notlage von einem Ausmaß schaffen, wie wir es während dieser Krise noch nicht erlebt haben".

Seit Monaten Luftangriffe

Nach Angaben des UNO-Syrien-Gesandten Staffan de Mistura leben 2,9 Millionen Menschen in Idlib, davon 1,4 Millionen Vertriebene aus anderen Landesteilen. Unter ihnen sind zehntausende, überwiegend islamistische Rebellen, die nach der Einnahme von einstigen Rebellenhochburgen wie Aleppo, Ost-Ghouta oder zuletzt Deraa nach Idlib gebracht wurden. Da die Region im Nordwesten Syriens an der Grenze zur Türkei das letzte Gebiet unter Kontrolle der Rebellen ist, gibt es in Syrien für sie keine Ausweichmöglichkeit mehr.

Schon seit Monaten gibt es Angriffe der syrischen Luftwaffe und ihrer russischen Verbündeten auf Stellungen der Rebellen und Krankenhäuser in Idlib. In den ersten sechs Monaten des Jahres zählte die UNO 38 Attacken auf medizinische Einrichtungen. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist in den Gebieten, die demnächst angegriffen werden könnten, nur noch die Hälfte der medizinischen Einrichtungen funktionsfähig.

"Die verbleibenden Einrichtungen sind weder ausreichend ausgestattet noch vorbereitet auf eine massive Zunahme der Patienten", sagte ein Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. "Jede Offensive wird die bereits prekäre Situation verschlimmern." Besonders ein Chemiewaffenangriff dürfte die Kliniken überfordern. Beide Konfliktparteien werfen sich seit Wochen vor, solche Attacken zu planen.

800.000 könnten fliehen wollen

In der Region sind zwei Millionen Menschen auf Hilfslieferungen angewiesen, wovon die meisten über die türkischen Grenzübergänge Bab al-Hawa und Bab al-Salam gebracht werden. Im Fall einer Offensive und der Schließung der Grenze zur Türkei könnten die Hilfslieferungen unterbrochen werden, befürchtet der IKRK-Sprecher. Zudem könnten die Kämpfe die Hilfsorganisationen zwingen, ihre Mitarbeiter abzuziehen.

Große Sorge bereitet den Helfern die Flüchtlingsfrage. Im Fall einer Militäroffensive Assads werden nach UNO-Schätzungen 800.000 Zivilisten aus Idlib zu entkommen versuchen. "Früher sind Leute aus Aleppo, Ost-Ghouta, Homs, Deraa nach Idlib gebracht worden", sagt Sedun Alsubi, Leiter der Union of Medical Care and Relief Organisations. "Doch wo sollen die Leute in Idlib nun hin? Nach Idlib gibt es kein anderes Idlib mehr."

Die Türkei hat ihre Grenze schon 2015 für Flüchtlinge dichtgemacht und will unbedingt verhindern, dass weitere ins Land kommen, denn dort leben bereits 3,5 Millionen Syrer. Insbesondere hat sie kein Interesse, die Extremisten der Jihadistenallianz Hajat Tahrir al-Sham (HTS) aufzunehmen, die den Großteil von Idlib kontrollieren und unter denen auch tausende Tschetschenen, Zentralasiaten und andere ausländische Kämpfer sein sollen.

Die Türkei ist daher seit Wochen in Verhandlungen mit Russland und dem Iran, um eine Offensive doch noch zu verhindern. Für Freitag ist in Teheran ein Gipfel der Präsidenten der Türkei, des Iran und Russland angesetzt. Dort wird sich wohl das Los der Menschen in Idlib entscheiden.