Sie beschäftigen sich seit Langem mit der Leistungsbereitschaft von Europas Eliten und sind zum katastrophalen Schluss gekommen, dass der Leistungswille der Eliten dramatisch abnimmt. Warum? Verführt der heutige Wohlstand zum Mittelmaß?


EVI HARTMANN: Es wäre eine sehr harte Aussage, dass der Wohlstand zum Mittelmaß verführt. Ich glaube, dass wir uns in einer Entwicklung befinden, die zur Leistungsvermeidung führt, und sich dadurch eine Schonhaltung etabliert, die alle oder zumindest sehr viele als sehr praktisch empfinden. Es wird heute nicht mehr negativ gesehen, wenn man sich bequem zurückzieht und sich denkt, andere führen die Arbeit aus.

Früher wurde eine solche Schonhaltung negativ bewertet?

HARTMANN: Ja, da hat sich in der Gesellschaft etwas geändert. Das ist natürlich auch den Umständen geschuldet. In einer Zeit wie heute, in der die meisten ein komfortables Lebensumfeld vorfinden, ist auch der Ehrgeiz und der Anspruch ein anderer. Nach dem Krieg hat es natürlich eine andere Motivation gegeben, weil nichts vorhanden war. Meine Kinder wachsen in einer Gesellschaft auf, in der alles vorhanden ist.

Und deshalb kommt es zum „Bloß-nicht-überarbeiten-Phänomen“, über das Personalchefs klagen, wie Sie in Ihrem Buch „Über eine Elite ohne Ambition“ schreiben?

HARTMANN: Das ist schon eher Ausdruck eines Zeitgeistes. Man sieht das auch nicht nur in der Wirtschaft, sondern in der Schule, an den Universitäten. Der Personalvorstand eines Konzerns hat mir Folgendes erzählt. Er interviewte einen Kandidaten für eine Großprojektleitung mit einem Budget von 23,5 Millionen und sechsstelligem Gehalt und der Kandidat fragte ihn, ob die Überstunden abgegolten oder abgefeiert werden. Er sagte, er frage dies wegen des Freizeitwertes der Stelle. Der Personalvorstand wäre fast vom Stuhl gefallen und fragte mich: Würden Sie so jemanden einstellen, der im ersten Gespräch nicht über seine Leistungsbereitschaft redet, sondern über seine Freizeitbereitschaft?

Sie glauben, dass diese mangelnde Leistungsbereitschaft tatsächlich ein Problem in Europa ist? Das könnten auch Einzelfälle sein.

HARTMANN: Das sind keine Einzelfälle. Wir diskutieren über das Ausnutzen durch zu viel Arbeit, die zu Burn-out führt, wir reden über Work-Life-Balance. Es hat sich die übergeneralisierende Ansicht breitgemacht, dass Arbeit an sich schädlich sei. Das sind alles Diskussionen, die dazu führen, dass Leistungsvermeidung en vogue wird. Immer mehr Menschen, die absolut leistungsfähig wären, versuchen prophylaktisch im Sinne der eigenen Gesundheitsvorsorge so viel Arbeit wie möglich zu vermeiden.

Mit dieser Kritik stehen Sie im völligen Gegensatz zu all jenen, die auf steigende Belastungen und Überforderungen durch eine sich verändernde Arbeitswelt hinweisen und vor einer nur mehr auf Leistung getrimmten Gesellschaft warnen.

HARTMANN: Da muss man schauen, was mit Leistung gemeint ist. Ich spreche nicht von Überforderung oder dass Leistung über die Grenzen hinaus gefordert wird. Das führt zu Burn-out, zu Überforderung, die krank macht. Darüber sind wir uns alle einig. Es geht darum, dass man das leistet, wozu man fähig ist, und dass man dies freiwillig macht und auch selbstverständlich findet. Heute sind es immer weniger, die das tun, und immer mehr treten zurück und verlassen sich darauf, dass es noch andere gibt, die Spaß an der Leistung haben. Amazon-Gründer Jeff Bezos hat in seinen ersten Wochen sicher nicht um 15 Uhr die Schnur aus der Hand fallen lassen.

Worauf führen Sie es zurück, dass nicht nur die Auswüchse der Leistungsgesellschaft, sondern nach Ihren Beobachtungen auch die Leistung an sich radikal infrage gestellt wird und sehr gute Schüler oft auch als Streber in die Ecke gestellt werden?

HARTMANN: Das ist der momentane Trend, der mitreißt. Es entspricht auch dem Naturell der Menschen. Wir müssen aber wieder dahin kommen, dass Leistung wertgeschätzt und man nicht negativ als karrierebesessen hingestellt wird. Wer soll denn die Herausforderungen meistern, vor denen Europa in der Digitalisierung, in der Elektromobilität steht? Wo stehen wir in der Automobilindustrie? Niemand weiß, ob es in 30 Jahren noch Automobilhersteller in Deutschland geben wird. Wenn sich die Leistungsträger nicht mächtig anstrengen, werden wir bald überrollt.

Was macht Sie so sicher, dass die Eliten zu wenig leistungsbereit sind?

HARTMANN: Es gibt darüber keine wissenschaftlichen Studien, aber in allen Gesprächen, die ich mit der Wirtschaft führe, wird dieser Befund geteilt. Es geht hier um einen generationsübergreifenden Zeitgeist.

Ein Zeitgeist, der sagt, dass die Lebensqualität unter dem Wachstumsdiktat leide und dass jeder verstärkt auf die Work-Life-Balance achten sollte?

HARTMANN: Der Begriff Work-Life-Balance unterstellt schon, dass das Leben gegen die Arbeit zu balancieren ist. Es ist doch ein Leben ohne Arbeit nicht möglich. Wir haben nicht den Feind Arbeit, der sich gegen das Leben stellt.

Sie verweisen auf den Zeitgeist. Paul Lafargue forderte bereits 1880 das „Recht auf Faulheit“ als Maßnahme gegen die Arbeitsverhältnisse. Marcuse definierte Leistung vor vielen Jahrzehnten als äußerliche Produktivität, durch die der Mensch sich selbst entfremde. Ganz so neu ist die Kritik somit nicht.

HARTMANN: Recht auf Faulheit, Entfremdung. Das sind Schlagworte, aber keine Lösungsformen. Es ist unstrittig, dass einer, der Leistungswillen hat, auch einmal faul auf der Haut liegen kann. Es geht aber darum, dass jene, die leistungsfähig wären, nicht das leisten, was sie leisten könnten, weil sie sich verweigern. Wir müssten in Europa wieder eine Kultur der Leistungsbereitschaft kreieren. Das erfordert einen Kulturwandel in den Schulen, in den Unternehmen, an den Unis. Wo wird heute über Leistung diskutiert? Leistung ist zum Tabuthema geworden. Und jene, die überdurchschnittlich viel leisten, bekommen dafür in Betrieben oft unterdurchschnittlich wenig Anerkennung. In den USA erhalten Kinder, die eine besondere Leistung in der Schule erbringen, eine Extraförderung. Bei uns gibt es höchstens eine Förderung für schlechte Schüler. Wie soll dann ein junger Mensch auf die Idee kommen, dass Leistung ein Teil unserer Kultur sein könnte?

Ein deutscher Großindustrieller hat das triste Szenario eines Europas auf dem Abstellgleis gezeichnet, das mit Asien mittelfristig nicht mehr mithalten wird können. Der Europäer wünsche sich die 35 oder 30-Stunden-Woche, während Chinesen oft 12 Stunden täglich arbeiten würden. Eine plakativ überzogene Kritik?

HARTMANN: Das ist die Beschreibung der Entwicklung. Die Europäer wünschen sich etwas und die Chinesen arbeiten bis zur Selbstaufgabe. Wenn man das in eine Waage einbaut, ist beides überzogen und schlecht. Wir haben die Freiheit in Europa, uns alles wünschen zu können, was wir gerne hätten und die anderen haben das überzogene Arbeitsdenken, was auch falsch ist. Hier bräuchten wir wirklich eine Balance.