Zwar hatte der britische Premier David Cameron schon im Vorfeld erklärt, keinen Austritt aus der EU beantragen zu wollen, dennoch drängten die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen am Dienstagabend in Brüssel auf klare Verhältnisse. Gleich mehrere Spitzenpolitiker warnten London vor Rosinenpickerei, die aktuelle Ungewissheit sei für niemanden gut.

Die Gipfelteilnehmer wollten sich von Großbritanniens Premier David Cameron die Vorstellungen seines Landes erläutern lassen. Bei dem Referendum hatten am Donnerstag 52 Prozent der britischen Wähler für einen EU-Austritt gestimmt.

Enttäuschung im Vordergrund

Die Atmosphäre zu Beginn des Gipfeltreffens sei von Enttäuschung geprägt gewesen, berichtete EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, nach seiner Rede bei der Eröffnungssitzung vor Journalisten. Zu einem zuletzt immer wieder ins Spiel gebrachten Verbleib Großbritanniens in der EU trotz des negativen Referendumsergebnisses äußerte er sich skeptisch: Sie können nicht das Volk bitten, abzustimmen, und dann stimmen sie ab, und sie sagen, das interessiert mich nicht."

Erst am Montag hatte Cameron betont, den für einen EU-Austritt notwendigen Artikel 50 am Dienstag noch nicht auslösen zu wollen. Kommt dieser einmal zur Anwendung hat das Land lediglich zwei Jahre Zeit einen Austritt mit der EU zu verhandeln, wenn der Rat keiner Verlängerung zustimmt. Danach würde Großbritannien automatisch ausscheiden und alle mit der Mitgliedschaft verbundenen Vorteile verlieren.

"Ich hoffe sehr, dass wir bei Handel, Zusammenarbeit und Sicherheit eine Beziehung anstreben werden, die so eng wie möglich ist" schilderte Cameron vor Beginn der Beratungen am Dienstag seine Wunschvorstellungen. Ganz so einfach wollen es ihm die anderen 27 Mitgliedsstaaten - die sich bereits am Mittwoch und erneut im September ohne Großbritannien treffen wollen - aber nicht machen.

Kein "doppeltes Spiel"

"Es muss und es wird einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen Union sein möchte oder nicht", erklärte etwa die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Ein "doppeltes Spiel" werde nicht akzeptiert, warnte Belgiens Premierminister Charles Michel.

"Ich möchte, dass Großbritannien seine Position klärt", betonte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem EU-Parlament. "Wir können uns nicht auf einen langen Zeitraum der Ungewissheit einlassen." Und der schwedische Premier Stefan Löfven merkte an: "Die Unsicherheit, die wir derzeit haben, ist für niemanden gut."

Und auch Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) drängte zur Eile: "Das ist gar keine Frage. Wir müssen die richtigen Diskussionen führen. Wir müssen schauen, wie wir das europäische Projekt weiterentwickeln", betonte er vor Beginn der Gespräche. Zugleich zeigte er sich offen für eine EU-Mitgliedschaft Schottlands außerhalb des Vereinigten Königreiches: "Es ist jeder willkommen, der seinen Beitrag leisten kann" und Schottland könnte das "mit Gewissheit".

Andere wurden in ihrer Kritik noch deutlicher: "England ist zusammengebrochen", mit seiner Politik ebenso wie der Währung, der Verfassung und der Wirtschaft, sagte der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Luxemburgs Premier Xavier Bettel warf Cameron vor, sein Land "aus nationalem politischem Kalkül" in die aktuelle schwierige Lage gebracht zu haben.

"Post-Brexit-Hysterie"

Fern von Europa war man am Dienstag hingegen um Beruhigung bemüht. "Am besten sieht man das so, dass für das Projekt einer vollen europäischen Integration eine Pause-Taste gedrückt wurde", warnte US-Präsident Barack Obama vor Hysterie. "Es gibt da so eine kleine Post-Brexit-Hysterie, als ob sich die NATO oder die transatlantische Allianz auflösen und jedes Land sich in seine Ecke zurückziehen würde", sagte er dem Sender NPR: "So ist das aber nicht."