Damit werde "zum wiederholten Male ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens, sagte Schulz den ARD-Tagesthemen am Freitag. 

Bereits als Cameron vor drei Jahren das Brexit-Referendum ankündigte, um parteiinterne Gegner ruhigzustellen, habe er einen "ganzen Kontinent verhaftet für seine taktischen Verhandlungen", sagte der EU-Parlamentspräsident. Nachdem Großbritannien nun entgegen seinem Wunsch für den Austritt aus der EU gestimmt habe, halte Cameron Europa erneut hin und wolle bis zum Parteitag der Konservativen im Oktober warten. "Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will", kritisierte Schulz.

Cameron hatte am Freitag seinen Rücktritt für Oktober angekündigt und erklärt, erst sein Nachfolger als Premierminister werde dann formell den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erklären. Die EU-Führung forderte die britische Regierung dagegen auf, den Austritt nicht hinauszuzögern, sondern "so schnell wie möglich" zu vollziehen.

Mit der Austrittserklärung würde eine zweijährige Frist beginnen, in der beide Seiten die Entflechtung ihrer Beziehungen verhandeln. Ein Teil des Brexit-Lagers spekuliert auf eine längere Übergangszeit bis zum Jahr 2019.

Großbritannien, Land der tiefen Gräben

Großbritannien versteht es wie kaum ein anderes Land, seine Schwächen unter der Decke zu halten. Die Eruption des Brexit hat offenbart: Das Königreich durchziehen tiefste Gräben, sozialer und politischer Sprengstoff höchster Explosivität.

Großbritannien im Höhenrausch: Ganz alleine, ohne die Last europäischer Partner will das Königreich künftig seine Rolle in der Welt finden. Doch in diese Mammutaufgabe geht das Königreich als angeschlagenes und - wie spätestens das Brexit-Referendum offenbarte - zerrissenes Land. Die Gräben verlaufen zwischen den Landesteilen, aber auch zwischen gesellschaftlichen Schichten, zwischen Arm und Reich, zwischen Alt und Jung, zwischen Stadt und Land.

So droht dem Königreich der interne Bruch, noch ehe die Loslösung von der Europäischen Union so richtig über die Bühne gegangen ist. "Die Politiker, die Großbritannien aus der EU führen, müssen sich wappnen vor der klaffenden Lücke, die sich zwischen ihrer politischen Rhetorik und den Realitäten da draußen auftut", sagt Robin Niblett, Direktor des angesehensten britischen Thinktanks Chatham House.

Neuer Aufwind für Nationalisten

Schottland will die Unabhängigkeit. Und mit dem vor allem von Wählern in England und Wales erzwungenen EU-Ausstieg Großbritanniens haben die Nationalisten nördlich der Grenze neuen Vorschub bekommen. "Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist nun höchstwahrscheinlich", sagt die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon und gibt dafür einen Zeitrahmen von zwei Jahren vor.

2014 war das Ansinnen knapp gescheitert. Ein im EU-Trennungskrieg geschundenes Großbritannien könnte es schwer haben, die energischen Schotten im Zaum zu halten. Zumal in Nordirland die nächste Flanke offenliegt. Die Menschen auf der Nachbarinsel Großbritanniens sind auf Gedeih und Verderb auf das EU-Land Irland angewiesen. Die linksgerichtete Sinn-Fein-Partei forderte bereits die Wiedervereinigung des Nordens mit der Republik und die Loslösung von Großbritannien.

Auch in Nordirland haben die Menschen mehrheitlich gegen den Brexit votiert, vor allem, das zeigen die Zahlen der Meinungsforscher, die Katholiken. Sie sehen sich eher auf der Seite der Republik. Die protestantischen Unionisten votierten mehrheitlich für den Brexit. Ein neuer Konflikt in dem ehemaligen Bürgerkriegsland, dessen blutige Gefechte London verharmlosend mit den Wort "Troubles" ("Ärger") umschreibt.

In Belfast und anderen Städten stehen noch heute sogenannte Peacewalls, Friedensmauern aus Stahl, die die Konfliktparteien räumlich voneinander trennen. Die Gewalt flammt immer wieder auf, wegen Kleinigkeiten, die der Tragweite eines Brexit nicht das Wasser reichen können. Und wie will London eigentlich seine einzige Landgrenze zur EU schützen? Mit neuen Zäunen. Donald Trump lässt grüßen und hat sich am Freitag in Schottland schon einmal die Gegend betrachtet.

Wohlstandsverlierer für Brexit

Das Zahlenmaterial der Meinungsforscher zeigt verblüffend offen, was los ist mit Großbritannien im Jahr 2016. Für den Brexit votierten vor allem Menschen in England und Wales, außerhalb der Metropole London, mit überwiegend schwächerer Bildung, schwächerem Sozialstatus und höherem Alter. Bei den jungen, besser gebildeten, in London, Nordirland oder Schottland verfing die Anti-EU-Stimmungsmache weniger.

"Die Leave-Kampagne hat in Ostengland und in den Labour-Hochburgen Boden gewonnen", sagt Raoul Ruparel von der Denkfabrik Open Europe. Die alte Arbeiterpartei hat unter ihrem neuen und linken Vorsitzenden Jeremy Corbyn es nicht vermocht, ihre Klientel auf ihre Seite zu ziehen.

Die Meinungsforscher zeigen auch: Der Brexit ist ein Phänomen des Alters, der Bildung, von Stadt und Land. Die jüngeren und besser gebildeten wollten von dem EU-Austritt nichts wissen. Auf dem Social Network Twitter schlossen sich viele junge Leute unter Hashtags wie #notinmyname oder #whathavewedone zusammen - "nicht in meinem Namen" und "was haben wir getan?" "Dieses Ergebnis repräsentiert nicht die jungen Menschen, die mit den Konsequenzen zu leben haben." Es war nicht David Camerons einziger Fehler, eine Gesetzesinitiative zum Wahlrecht für 17-Jährige zu blocken.

Den Brexit wollten die älteren, unzufriedenen in den heruntergekommenen Sozialwohnungsblocks der Midlands und des englischen Nordens. London zahlt mit dem Brexit dafür, Strukturpolitik sträflich vernachlässigt zu haben, die Menschen in ihren Sozialwohnungsblocks alleine gelassen zu haben. "Großbritanniens Krankheiten kommen nicht von der EU, sie sind hausgemacht", sagt Niblett.

Regiert werden die Leute künftig von Politikern, die in der britischen Klassengesellschaft nicht zu den Aufsteigern gehören. Boris Johnson, Theresa May und Co. waren schon oben, als ihre Eltern sie auf Eliteinternate schickten.