Das Ergebnis der französischen Parlamentswahlen ist eine Sensation. Nicht einmal versierte Umfrageexperten haben damit gerechnet, dass sich die links-grüne Neue Volksfront als stärkste Kraft etablieren würde. Präsident Emmanuel Macron hat wissen lassen, dass er die „Neustrukturierung“ der Nationalversammlung abwarten werde, bevor er Entscheidungen treffe und Premierminister Gabriel Attal gebeten, bis zur Klärung im Amt zu bleiben. Im Klartext heißt das: Es kann Wochen dauern, bis Frankreich eine neue Regierung hat.

Sowohl die Wähler des Linksbündnisses als auch die Wähler von Marine Le Pens Rassemblement National (RN) stehen auf unterschiedliche Weise für den Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit und weniger EU. An dieser Erkenntnis wird Macron, dessen Partei Renaissance ohne Bündnispartner lediglich 98 Sitze bewahrt hat, nicht vorbeikommen. Nach den ungeschriebenen Regeln der französischen Demokratie muss der Präsident einen Regierungschef aus dem stärksten Block benennen und logischerweise aus der Partei des Blocks, die am meisten Sitze gewonnen hat. Das ist Mélenchons Linkspartei Unbeugsames Frankreich (LFI).

Ganz allein wird die Linke aber nicht regieren können. Sie braucht eine Koalition. Rechnerisch naheliegend ist eine Koalition mit Macrons Mitte-Bündnis, das über 156 Sitze verfügt. In der Praxis ist diese Koalition jedoch zum Scheitern verurteilt. Der linke Volkstribun Mélenchon hat bereits klar gemacht, dass er kein Mann der Kompromisse ist: „Einzig das Programm wird umgesetzt, das Programm und nur das Programm, aber das ganze Programm“, versicherte er noch am Wahlabend.

Wunschliste in Zeiten leerer Kassen

Das 26 Seiten umfassende Programm der Neuen Volksfront liest sich wie eine abenteuerliche Wunschliste in Zeiten leerer Kassen – und im Falle Frankreichs neuer Schuldenrekorde. Gleich als Erstes wird der soziale Notstand ausgerufen. Die Grundlinie steht im krassen Gegensatz zur Politik Macrons: Abschaffung der Rentenreform und die sofortige Rückkehr zur Rente mit 62, Erhöhung des Mindestlohns auf 1600 Euro netto, eine Gehaltserhöhung für alle Beamte um zehn Prozent. Die Mehrausgaben hat die Partei auf 125 Milliarden Euro berechnet.

Auch außenpolitisch steht die Linkspartei für eine radikale Anti-Macron-Linie. Der ehemalige Trotzkist Mélenchon ist gegen die EU und ein erklärter Gegner der deutschen „Übermacht“, der seiner Germanophobie in seinem Buch „Der Bismarckhering“ freien Lauf gelassen hat. Freihandelsverträge hält er für das größte Übel. Die Bindung der Europäer an die USA empfindet er als eine Art Ursünde. Regelmäßig hetzt er gegen Amerika, die NATO und natürlich auch gegen Israel. Für viele hat sich der egomane Choleriker Mélenchon disqualifiziert, als er nach der Terrorattacke der Hamas auf Israel diese nicht verurteilt hat. Von diesem Zeitpunkt an brach der bis dahin unterschwellige Antisemitismus der Partei an die Oberfläche.

Selbst eine erzwungene Kohabitation des proeuropäischen Präsidenten mit dem linken Volkstribun würde sich schnell als Kampf-Kohabitation erweisen. Macron muss in den kommenden Wochen deshalb eine Lösung aus dem Hut zaubern. Andernfalls läuft Frankreich Gefahr, sich in Sachen EU wie Ukraine-Hilfe zum Totalausfall zu entwickeln.

Beim Gedankenspiel über zukünftige Koalitionen muss man bedenken, dass sich die Kräfteverhältnisse im linken Block sichtbar verschoben haben. Mélenchons Linkspopulisten waren in der Nupes-Fraktion der alten Nationalversammlung die taktangebende Kraft. Ihr Vorsprung ist am Sonntag merklich zusammengeschrumpft und das, obwohl sich bei der Verteilung der 577 Wahlkreise untereinander deutlich mehr Kandidaten aufstellen durften als die sozialistischen Genossen und die Grünen. Während LFI lediglich drei Sitze dazugewonnen hat und über 78 Abgeordnete verfügt, haben die Sozialisten ihr Ergebnis glatt verdoppelt. Statt 31 Abgeordnete werden sie in Zukunft 65 haben.

Comeback der Sozialisten

Dieses Ergebnis verdanken die totgesagten Sozialisten Raphaël Glucksmann, der für die Wiedergeburt der Sozialdemokratie in Frankreich steht. Viele seiner Wähler waren enttäuscht über seinen Zusammenschluss mit Mélenchon. Jetzt bietet sich für Glucksmann die historische Chance, sich gemeinsam mit den Grünen zu emanzipieren und eine Koalition mit proeuropäischen Kräften zu suchen.

Denn auch die Grünen feiern nach ihrem Einbruch bei den Europawahlen einen Erfolg mit elf zusätzlichen Abgeordneten. Ihre Fraktion umfasst jetzt 34 Mitglieder. Parteichefin Marine Tondelier hat sich in den vergangenen Wochen des Wahlkampfs als Vermittlerin zwischen den unterschiedlichen Parteien des Bündnisses hervorgetan. Viele sehen in ihr eine perfekte Regierungschefin. Am Montag sagte sie, dass der Premierminister aus den Reihen von LFI, PS, Grünen und der Kommunisten kommen könne. Auch eine Figur der Zivilgesellschaft sei vorstellbar.

Die linken Partner wissen, dass Mélenchon für viele Franzosen ein rotes Tuch ist. Laut Umfragen wollen 80 Prozent der Befragten ihn in keinem Fall als Premierminister haben, nur 55 Prozent äußerten dieselben Bedenken bei RN-Chef Jordan Bardella. Das liegt auch daran, dass sich Mélenchon im Wahlkampf wie ein frustrierter Tyrann aufgeführt hat und die Partei wie ein alter Trotzkist führt, der diejenigen killt, die ihn kritisieren. So hat er langjährige Weggefährten nicht aufgestellt, die am Ende ohne seinen Segen und ohne das Label der Partei gewonnen haben. Auch François Rufin, in ewiger Konkurrenz mit dem Chef, hat sich emanzipiert. Das könnte ein Vorzeichen für die Entwicklung der nächsten Tage und Wochen sein.