Herr Harari, die Menschheit sei nie zuvor stärker gewesen als jetzt, schreiben Sie in Ihrem Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“. Angesichts der aktuellen Coronakrise: Sind Sie immer noch gleichermaßen zuversichtlich?

YUVAL NOAH HARARI: Wir haben zwar ein System aufgebaut, das die Möglichkeiten von Epidemien ignoriert. Wir haben sie beim Bau unserer Welt nicht berücksichtigt, weil wir glaubten, dass das Gesundheitssystem in der Lage sein werde, der Ausbreitung der Epidemie einen Riegel vorzuschieben. Wir sind mächtig und stark – aber eben nicht dermaßen mächtig und stark. Unsere komplexe Gesellschaft ist viel zerbrechlicher als diejenige im Mittelalter. Aber wir sind besser ausgerüstet als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, um Antworten auf diese Art von Epidemie zu finden. Wenn man sich mitten in der Krise befindet, sieht es natürlich nicht danach aus. Doch wir haben alles, was wir benötigen, um sie zu überwinden.

Was macht Sie da so sicher?

Während früherer Epidemien war die Unwissenheit das Schlimmste, zum Beispiel während der Pest im Mittelalter. Niemand wusste damals, weshalb die Menschen starben, wie sich die Krankheit ausbreitete und was man dagegen unternehmen könnte. Heute ist das anders. Es dauerte nur zwei Wochen, bis das Virus und dessen genetische Sequenz identifiziert waren, die die Epidemie verursacht, und bis eine verlässliche Testmethode entwickelt war, um die Krankheit zu identifizieren.

Diese Kenntnis mag freilich noch nicht wirklich zu beruhigen.

Weil wir im Laufe unseres Lebens noch nie so etwas erlebt haben. Sogar meine Großmutter, die jetzt 98 Jahre alt ist, hat eine derartige Krise nie durchgemacht. Sie wurde kurz nach der Spanischen Grippe von 1918 geboren.

Sehen Sie eine neue Ära der Selbstversorgung und ein Ende der Globalisierung?

Das wäre eine große Katastrophe. Denn viele Länder sind heute nicht in der Lage, sich selber zu ernähren. Wenn man den internationalen Handel unterbindet, würde das zu einer Massenhungersnot und zu Unruhen auf den Straßen führen. Wer glaubt, dass nach dem Ende der Epidemie jedes Land zum Selbstversorger werden muss, zieht die falschen Schlüsse.

Weshalb?

Erstens wird das keinen Schutz vor künftigen Epidemien bieten. Epidemien breiteten sich schon im Mittelalter aus, als es weder Flugzeuge noch Kreuzfahrtschiffe gab, sondern nur Pferde oder Esel, um sich fortzubewegen. Man muss bis ins Steinzeitalter zurückgehen, um eine Gesellschaft zu finden, die vor Epidemien vollkommen geschützt war, weil sie isoliert war. Zweitens ist nicht Isolation, sondern Information das Gegenmittel zur Epidemie. Wir brauchen verlässliche und gute Informationen, sowohl auf der Ebene von Ländern als auch von Individuen. So können Länder, die mit der Epidemie bereits Erfahrung gesammelt haben, andere Länder über die Symptome und effektive Gegenmaßnahmen informieren. Natürlich müssen wir die Grenzen im Epidemiefall schließen, aber das sollte nur auf der Basis einer internationalen Kooperation erfolgen.

Was bedeutet?

Dass man die Informationen austauscht. Denn die Probleme europäischer Regierungen sind dieselben, mit denen China, Südkorea oder Taiwan konfrontiert sind. Deshalb kann Europa von diesen Ländern lernen.

Obwohl die politischen und wirtschaftlichen Systeme sehr verschieden sind?

Man muss ja nicht alles eins zu eins kopieren. Ein demokratisches Land wie Taiwan ist gegen die Epidemie sehr effizient, aber anders vorgegangen als China. Es braucht deshalb eine globale Kooperation.

Wird es nach „Corona“ eine neue Weltordnung geben?

Das halte ich für sehr wahrscheinlich.

In welche Richtung könnte es gehen?

Es kann zu mehr Isolationismus mit weniger gegenseitigem Vertrauen führen, eine Entwicklung, die wir bereits in den vergangenen Jahren beobachtet haben. Der Trend könnte aber auch in die gegenteilige Richtung gehen, falls die Länder realisieren, wie stark wir alle voneinander abhängig und denselben Gefahren ausgesetzt sind. Ich hoffe deshalb, dass diese Krise zu einer stärkeren globalen Solidarität führen wird.

Diese Krise ist ein Stresstest für alle Ideologien. Wie schneiden diese im Vergleich ab?

Ich kann den einzelnen Ländern keine Noten geben, dazu fehlen die Daten. Aber eines kann ich sagen: Die internationale Kooperation ist schlecht. Es wurde kein globaler Plan entwickelt. Die USA, die in den vergangenen Jahrzehnten die Rolle eines globalen Players innehatten, haben sich im Jahr 2016 als Global Leader abgemeldet. Das ist schlimm, weil wir eine globale Führung brauchen.

Auch die EU verfolgt keine gemeinsame Strategie.

Das ist ebenfalls beunruhigend. Denn gerade jetzt hätte die Europäische Union ihren Nutzen unter Beweis stellen sollen und die einzelnen Staaten hätten einander beistehen müssen. China hat die Krise gemeistert, weil es eine ganze Region abriegeln konnte.

Sie sprechen von der chinesischen Provinz Hubei.

Andere Regionen unterstützten die Provinz Hubei und deren Hauptstadt Wuhan mit ökonomischer Hilfe, medizinischen Geräten oder Nahrungsmitteln. In Europa bestünde die Chance, dasselbe zu tun. Falls sich die einzelnen Staaten nicht gegenseitig helfen, verschlimmern sie nicht nur die gegenwärtige Krise. Es wäre auch ein schrecklicher Rückschlag, vielleicht sogar ein tödlicher, für das Projekt der europäischen Einheit. Falls in einer derartigen Krise jedes EU-Land nur für sich selber sorgt, werden die Staaten, wenn die Krise einmal vorbei ist, ihre Konsequenzen ziehen, weil sie realisieren, dass es nicht funktioniert.

Grundfreiheiten werden eingeschränkt. In Israel oder Taiwan etwa werden Handydaten eingesetzt, um Bewegungsdaten zu erhalten, in anderen Ländern wird das Digital Tracking ebenfalls diskutiert. Werden Überwachungstechnologien künftig hemmungsloser eingesetzt als bisher?

Es ist eine große Gefahr, dass das, was jetzt als Notmaßnahme beschlossen wird, auch nach der Überwindung der Krise praktiziert wird. Dass Regierungen und Unternehmen neue Technologien benutzen, um Bürger oder Konsumenten zu überwachen und zu manipulieren, ist zwar nicht neu. Wenn wir aber nicht auf der Hut sind, könnte diese Krise eine wichtige Wende in der Geschichte der Überwachung bedeuten. Die Leute haben sich dann ja bereits daran gewöhnt, dass sie überwacht werden und dass es für ihre Gesundheit von Vorteil ist, und sie werden es deshalb eher akzeptieren. Was wir vor zehn Jahren noch für Science-Fiction hielten, ist heute bereits News von gestern.

Ist das das Ende des Liberalismus?

Ich hoffe nicht. Wer glaubt, dass Diktaturen besser mit dieser Art von Krisen umgehen können als Demokratien, liegt falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Eine gut informierte Bevölkerung, die versteht, was getan werden muss und die mit den Behörden freiwillig kooperiert, ermöglicht eine viel effizientere Abwehr als eine schlecht informierte Bevölkerung, die von der Polizei überwacht werden muss. Man kann ja nicht in jede Wohnung einen Polizisten abkommandieren, der kontrolliert, ob man die Hände gut genug wäscht.

Bietet die Krise auch Chancen?

Eine große Chance sehe ich darin, dass die globale Kooperation intensiviert wird, weil man begreift, dass bei künftigen Krisen ebenfalls eine globale Kooperation nötig sein wird. Zudem experimentieren die Menschen jetzt auf der Mikroebene mit neuen Technologien, und nicht alle sind schlecht. So ist meine Universität ...

... die Hebräische Universität in Jerusalem...

... wegen der Ansteckungsgefahr dazu übergegangen, die Kurse online zu stellen. Ich hoffe natürlich, dass wir eines Tages wieder zu den intimeren Vorlesungen im Hörsaal zurückfinden werden. Aber es ist ein riesiges Experiment, das wir sonst nicht gewagt hätten, und wir können daraus viel lernen für die Zeit nach der Krise. Denn Krisen beschleunigen historische Prozesse. Ganze Länder sind ja jetzt ein riesiges soziales Versuchslabor. In vielen Fällen ersetzen Roboter Menschen, und sie werden nicht verschwinden, wenn die Krise einmal vorbei ist. Denn Roboter haben den Vorteil, dass sie nicht infiziert werden können. Die aktuelle Krise verstärkt jetzt einen Trend, der vor einigen Jahren bereits eingesetzt hat. In normalen Zeiten hätte das vielleicht zehn Jahre gedauert, jetzt aber setzt sich das viel schneller durch. Wir werden in einer anderen Welt leben, wenn die Krise vorbei ist.

Dieses Gespräch erschien zuerst in der Schweizer „Weltwoche“.