Erstens: Wir erfahren das Wanken einer gesicherten Welt. Plötzlich gibt es den Einbruch von Natur, Unverfügbarkeit, Schicksal. Eine Bedrohung, gegen die man nichts tun kann. Dies geschieht in einer spätmodernen Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, dass sie alles im Griff hat.

Wenn ansonsten der Tod in diese gesicherte Welt hereinbricht, etwa durch Terror, ist zwar das Entsetzen groß, doch man kann die Schuldigen benennen und auf Sicherheitskräfte vertrauen. Im Corona-Fall gilt das nicht. Es ist niemand schuld. Ende der Machbarkeit. Es ist eine andere Spezies, die uns angreift: Viren, die - zu unserem Schaden - selbst überleben wollen. Aliens.

Es gibt nur Annahmen über das Abklingen der Epidemie, über eine zweite Welle nach Beendigung der Notmaßnahmen, über die Wiederkehr im nächsten Jahr. Wenn es richtig ist, dass 70 Prozent der europäischen Bevölkerung die Infektion erleiden müssen, heißt das bei einer sehr niedrigen Sterberate von 0,7 Prozent mehr als drei Millionen Tote. Und wir können eigentlich nur zuschauen. Eine neue Erfahrung.

Zweitens: Wir erleben einen temporären „Stillstand“ der Gesellschaft. Der „Normalzustand“ ist außer Kraft gesetzt. Die Epidemie bietet somit die Chance, die Schönheiten jener Selbstverständlichkeiten zu erkennen, in denen wir leben: die öffentlichen Plätze und Kaffeehäuser, die Kinos und Festivals, die Straßenbahnen und Schulen, die Optionen des Reisens. Es ist eine Erkenntnis von Freiheiten, die nicht mehr gelebt werden können, wenn jeder sich nach Tunlichkeit in seinen vier Wänden isolieren soll.

Manfred Prisching, geboren 1950 in Bruck an der Mur, Jurist, Volkswirt und Soziologe. Lehrt an der Uni- versität Graz. Zahlreiche Buchpublikationen, zuletzt erschien „Bluff-Menschen: Selbstinszenierungen in der Spätmoderne“ (2018).
Manfred Prisching, geboren 1950 in Bruck an der Mur, Jurist, Volkswirt und Soziologe. Lehrt an der Uni- versität Graz. Zahlreiche Buchpublikationen, zuletzt erschien „Bluff-Menschen: Selbstinszenierungen in der Spätmoderne“ (2018). © Susenj

Manch ein Herunterfahren des kollektives Entertainments muss ja gar nicht schlecht sein: keine Fussballspiele und Popkonzerte, Jubiläen, Messen, Preisverleihungen, Konferenzen. Wir sehen, was wir im Getriebe nicht zu sehen pflegen: manche Unnötigkeiten. Nice to have, muss nicht sein. Plötzlich macht der Begriff „Entschleunigung“ Karriere: nicht nur individuell, sondern im Gesamten.

Touristen, als Geldbringer geschätzt, in der Masse als Plage eingestuft, werden einerseits Mangelware, andererseits mit Misstrauen betrachtet: Italiener? Chinesen? Mobilitätsreflexion: Vielleicht muss man auch dann, wenn die Epidemie abgeklungen sein wird, nicht unbedingt ins Resort nach Thailand. Gerade haben wir gelernt, Flugreisen aus ökologischen Gründen vermeiden zu sollen; nunmehr wollen wir selbst dem horribel infektiösen Flugcontainer nach Tunlichkeit ausweichen.

Drittens: Wir sind mit einem Aufleben europäischer und globaler Fragmentierung konfrontiert. Grenzen werden geschlossen. Nationalstaaten sind gefragt. Es ist ohnehin schon länger keine Rede mehr von der „postnationalen“ Epoche, von der Erosion der Staatlichkeit. Wir sehen auch die Schattenseiten globalisierter Verflechtung. Ein Virus, das irgendwo auf der Welt auftaucht, legt in wenigen Wochen alle Länder lahm, und die wirtschaftlichen Folgen werden uns erst einholen.

Zum einen wächst das Bewusstsein, dass transnationale Verflechtung nicht nur Effizienz und Vielfalt, sondern auch Abhängigkeit bedeutet. Ein paar Zulieferketten aus China fallen weg - und die ganze Welt steht still. Zum anderen bedeutet der temporäre Stillstand, dass alle wirtschaftlichen Kalkulationen und Planungen zur Makulatur werden. Natürlich werden Betriebe in Schwierigkeiten kommen, manche zusammenkrachen. Wenn der Hochleistungskonsum ausgesetzt wird, haben wir eine Welt der Überkapazitäten vor uns. So geht Krise.

Viertens: Alltägliche Praktiken verändern sich: Händeschütteln ist zu unterlassen. Es wird allenfalls mit beiden Händen ein wenig herumgewachelt, zugleich als Signal: wir wissen ja... Oder quasijapanische Verbeugung. Eine körperliche Distanzierung, die darauf beruht, dass man dem anderen misstraut. Er könnte in der Tat gefährlich sein. In diesem Sinne werden wir auf unser körperliches Sein verwiesen. Man kann nicht auf die Rundumbetreuung durch eine Medizin setzen, die im vorliegenden Fall einfach gar nichts tun kann. Keine Therapie. Impfung in eineinhalb Jahren. Es ist der Körper selbst, der sein Überleben sichern muss. Plötzlich horcht man ein wenig in sich hinein.

Fünftens: Wir stellen fest, dass wir mit Unwägbarkeiten nicht gut umgehen können. Der Hang zum Perfektionismus setzt auf optimale Lösungen. Vagheit und Unwissen, Impulse, Grauzonen - das sind unbehagliche Unvollkommenheiten. Nun aber haben wir es mit Spielregeln zu tun, die das Epidemieproblem nicht „lösen“, sondern verschieben, verlagern, zeitlich dehnen, und mit situativen Einschätzungen, die von Tag zu Tag nachjustiert werden müssen. Pragmatische Maßnahmen für die Schulkinder, für die Krankenhäuser, für die Einkaufszentren: Infektionen nicht verhindern, nur verlagern. Interaktionen nicht unterbinden, nur reduzieren. Abwägungen und Trade-offs. Die besten unter den schlechten Lösungen finden.

Sechstens: Natürlich gibt es die üblichen Unschönheiten im Diskurs. (1) Verschwörungstheoretiker und Betrüger im Internet; aber genügend Ignoranten gibt es auch im Mainstream. (2) Die allzeit bereiten Apokalyptiker, die sich in wohliger Panik ergehen. (3) Stupide Macho-Realitätsverweigerer: Es sei ohnehin nur Grippe. (4) Zuweilen das übliche politische Kleingeld: Die Regierung verbreite bloß Ängste und setze überzogene Maßnahmen. (5) Oder im Gegenteil: Die Regierung handle zu spät, sei nicht konsequent. Am besten beides: zu viel und zu wenig. Unappetitliche Nutznießungen einer Situation, in der sich billige Argumente verbieten sollten.

Resümee: Die Irritation, die mit dieser Pandemie in eine dahinlebende Gesellschaft eingebracht wird, macht uns darauf aufmerksam, was wir ansonsten, im Alltagsgetriebe, nicht mehr wahrnehmen: Abhängigkeiten, Bequemlichkeiten, Zuverlässigkeiten, Dummheiten, Freiheiten, Schönheiten. Ein Reflexionsanstoß: Schließlich sitzt man zu Hause, und wenn man sich nicht gänzlich von den medialen Anlieferungen absorbieren lässt, sieht man sich plötzlich selbst ins Antlitz. Ein paar dauerwirksame Akzente im gesellschaftlichen Getriebe könnten übrigbleiben.