Können Sie mit dem Ausdruck „OK, Boomer“ etwas anfangen?
WOLFGANG SOBOTKA: Nein.

Das ist ein Internet-Meme, mit dem junge Menschen Argumente der Babyboomer-Generation als nicht zeitgemäß kritisieren. Der Brexit ist da ein gutes Beispiel. In Großbritannien stimmten die meisten jungen Menschen für die EU, die Mehrheit der älteren für den Brexit. Macht die Generation der Baby-Boomer jetzt das Europa, das ihre Elterngeneration aufgebaut hat, wieder kaputt?
Nein, aber es gibt unterschiedliche, durchaus auch generationsspezifische Zugänge zu Europa. Es liegt im Wesen der Geschichte, dass Ereignisse später aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Wir leben immer in einem Prozess des Wandels. Der Wandel wird von manchen als eine Gefahr gesehen und von anderen als Perspektivenöffnung. Junge Menschen kennen Europa nicht anders, allenfalls einen historischen Kontext. Aus ihrer Perspektive haben sie in ihrer Haltung daher auch absolut recht, und es ist nachvollziehbar, dass Meinungen, die aus einem anderen Erfahrungshorizont stammen, für sie nicht gangbar sind. Aber die Politik lebt von unterschiedlichen Vorstellungen und das ist das Wesentliche einer Demokratie. Im Übrigen kann man nicht von Großbritannien auf die Europäische Union schließen.

Generationsspezifische, große Unterschiede im Wahlverhalten sind aber kein rein britisches Phänomen.
Ich finde es positiv, dass die jungen Generationen einen anderen Zugang haben als wir Babyboomer, weil ich weiß: Die wollen etwas. Auch ich bin damit aufgewachsen etwas ändern zu wollen. Auch ich habe gegen die Stationierung von Pershing Raketen oder Zwentendorf demonstriert. Das ist gut, wir sollten uns junge Menschen mit klarer Haltung wünschen – jede Demokratie lebt davon.

Ist es einfacher, Dinge anders zu denken, weil man später eher versucht, etwas gut zu Ende zu führen, dass man begonnen hat?
Ich frage mich zeitlebens, was ich verändern kann. In allen politischen Funktionen habe ich nie versucht, ausgetretenen Pfade zu beschreiten. Als Präsident des Nationalrates geht es mir darum, den Parlamentarismus breit und in seinem Wesen näherzubringen und das ist bisweilen durchaus eine Mammutaufgabe. Er ist aber das Fundament unserer Demokratie!

Wenn im Parlament eine Woche vor der Wahl beschlossen wird, dass man doch schon mit 62 in Pension gehen kann …
Dann ist das ein leidvoller Beschluss.

Und ein Indiz dafür, dass Politik vorrangig für ältere Menschen gemacht wird, weil 42 Prozent der Wahlberechtigten in Österreich über 45 sind?
Das wäre zu einfach gedacht. Aber ja, die Verantwortung kommenden Generationen gegenüber muss stärker gelebt werden. Das kommt in Vorwahlzeiten oftmals zu kurz. Es geht generell um die Verantwortung dem Menschsein gegenüber. Arbeit gibt menschlichem Leben eine Struktur, einen Sinn. Daher ist die Frage, ob wir früher in Pension gehen sollen, die falsche.

Der Beitritt Österreichs zur EU ist eine Erfolgsgeschichte. Er hat Arbeitsplätze geschaffen, mehr Wohlstand.
Das ist wohl jedem klar…

Trotzdem ist die Beziehung der Österreicher zur EU keine Liebesgeschichte. Warum?
Positive wirtschaftliche Entwicklungen und Wohlstand führen nun mal nicht zu großen Emotionen. Gefühle entwickeln sich zu überschaubaren Einheiten, zum Lebensumfeld, das man einzuschätzen weiß. Die Emotion für die Weltverantwortung kenne ich jedoch nicht. 

Gerade globale Herausforderungen wie Klimawandel oder Migration könnten doch das Identifikationsgefühl mit der EU stärken.
Das glaube ich nicht. Ein radikales Beispiel aus der Geschichte: Viele Diktaturen haben versucht, durch Uniformierung dem einzelnen das Gefühl zu geben, zu einem großen Ganzen zu gehören, gleichzeitig aber auch die Individualität im Denken zu nehmen. Allesamt sind sie gescheitert.

Wie kann das große Ganze dann gelingen?
Nur, wenn die vielen kleinen Einheiten überlegen, was sie brauchen, um sich in ihrer Struktur besser entwickeln zu können und aus nüchternen, rationalen Überlegungen handeln. Zollschranken bauen sich in erster Linie nicht aus Liebe zu den Nachbarn ab, sondern weil Austausch und Handel besser möglich sind. Das steht im Vordergrund, nicht die großen Ideale, die verblassen. Ideale sind nur möglich, wenn der einzelne nicht auf der Strecke bleibt. Man kann das bedauern, aber ich glaube nicht an die große Evolution der Menschheit. 

Vor 25 Jahren, und auch in den Jahren davor, was der EU-Beitritt das wichtigste, innenpolitische Thema in Österreich. Gibt es jetzt ein vergleichbar großes Thema?
Nicht in der Form. Es ist vergleichbar mit den Herausforderungen der Klimaentwicklung oder der Migration, aber das war damals ein punktuelles Ereignis – nicht prozesshaft wie die aktuellen Problemstellungen. 

Die Große Koalition ist damals im Gleichschritt gegangen, am Tag des Referendums hat der ÖVP-Parteivorsitzende die „Internationale“ mitgesungen. Braucht es das eine große gemeinsame Thema, damit eine Regierung funktioniert?
Damals gab es wirklich noch eine Große Koalition, aus zwei große Parteien. Bei großen Wenden braucht es natürlich einen gemeinsamen Schulterschluss, denn da geht es um das zentrale Bedürfnis der Menschen, ihre alltäglichen Probleme auf die Reihe zu bekommen. Aber schon ab den 60er-Jahren hat man gesehen, dass Österreich auch eine Alleinregierung aushält. Für eine Regierung braucht es immer eine Vision, was sie erreichen möchte und da ist es egal, ob sie eine Ein- oder Mehrparteien-Regierung ist. 

Die österreichischen Beitrittsverhandlungen zur EU wären um ein Haar gescheitert wären, weil es scheinbar unüberwindbare Hindernisse in Agrarfragen gegeben hat.
Die Österreicher waren schon immer ein bisschen kompliziert und detailverliebt.