Ein 39-Jähriger und seine um vier Jahre jüngere Ehefrau sind am Mittwoch in Krems wegen Mordes durch Unterlassung vor Gericht gestanden. Die beiden sollen die chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung ihrer 13-jährigen Tochter aus religiösen Gründen nicht behandeln haben lassen. Die Krankheit führte laut Obduktion zum Tod des Mädchens. Die Beschuldigten waren zum Mordvorwurf nicht geständig.

Kein Kind war je beim Arzt

Das Ableben des Kindes am 16. September 2019 hat laut Anklageschrift eine jahrelange Vorgeschichte. Die Beschuldigten - zwei deutsche Staatsbürger - gehören der Glaubensgemeinschaft "Gemeinde Gottes" an. Der 39-Jährige wurde in Usbekistan geboren, seine Partnerin in Kasachstan. Gelebt hat die Familie im Bezirk Krems. Bis auf das letztlich verstorbene Mädchen ließen sie keines ihrer sieben Kinder jemals von einem Arzt untersuchen, zudem besuchte der Nachwuchs weder Kindergarten noch Schule. "Es sind alle abgeschottet im Heimunterricht unterrichtet worden", betonte die Staatsanwältin im Eröffnungsvortrag.

Bereits im Juni 2017 war der Gesundheitszustand des Mädchens kritisch. Nach Intervention der Bezirkshauptmannschaft Krems wurde die damals Zehnjährige in das SMZ-Ost in Wien eingeliefert. Dort wurde die chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse - auch Pankreatitis genannt - und ein lebensbedrohlicher Zustand diagnostiziert. Trotz eindringlicher Warnungen der Ärzte unterschrieb der Vater acht Tage später einen Revers, woraufhin das Mädchen in häusliche Pflege übergeben wurde.

Nach dem Sommer 2017 ließen die Eltern das Kind nicht mehr medizinisch behandeln. Die Pankreatitis verschlechterte sich in dieser Zeit laut Staatsanwaltschaft stetig: Lebenswichtige Inselzellen zersetzten sich, dies löste eine Zuckerkrankheit aus.

Diabetisches Koma

Mitte September 2019 spitzte sich die gesundheitliche Lage der nunmehr 13-Jährigen zu. Im Beisein seiner Frau erklärte der 39-Jährige am 16. September seiner Tochter angesichts ihres schwachen Allgemeinzustandes laut Anklage, dass sie sterben würde. Am folgenden Tag erwachte die 13-Jährige nicht mehr aus einem diabetischen Koma. Die Eltern sollen das Sterben ihrer Tochter vom Krankenbett aus beobachtet haben. Die Beschuldigten "haben es unterlassen, einen Arzt zu rufen, was das Leben des Mädchens gerettet hätte", sagte die Staatsanwältin. Eine Handlung sei aus religiösen Gründen unterblieben. Nach Angaben der Vertreterin der Anklagebehörde zogen die Beschuldigten Gebete der gebotenen Alarmierung eines Arztes vor. "Alle Worte der Welt können das nicht ausreichend schildern", befand die Staatsanwältin am Ende ihres Eröffnungsstatements.

Zaid Rauf, der die Angeklagten gemeinsam mit Rudolf Mayer vertritt, hob hervor, dass die Eltern im Augenblick des Sterbens des Mädchens "voller Zuneigung für ihr Kind waren". Sie hätten sich mit dem Tod der 13-Jährigen nicht abgefunden, somit liege auch kein Mord vor. Die Beschuldigten hätten bis zuletzt auf Gottes Hilfe vertraut. Ihr Fehler sei gewesen, der Tochter die Entscheidung über eine Behandlung zu überlassen. Mayer fügte hinzu, dass der Gesundheitszustand der anderen Kinder des Ehepaares bei einer Untersuchung durch die Gemeindeärztin am 18. September 2019 nicht beanstandet worden sei.

Den beiden Elternteilen wird neben Mord durch Unterlassung auch das Quälen oder Vernachlässigen einer unmündigen Person vorgeworfen - dazu waren die Angeklagten geständig. Im Fall einer Verurteilung drohen den Deutschen Freiheitsstrafen von zehn bis zu 20 Jahren oder lebenslang. Der Prozess ist zwar auf zwei Verhandlungstage anberaumt (geplante Fortsetzung am 19. Februar, Anm.), ein Urteil könnte aber noch am (heutigen) Mittwoch fallen.

Beschuldigter: "Wir haben Gott vertraut"

Der 39-jährige beschuldigte Vater sprach davon, dass er und seine Ehefrau angesichts des schlechten Gesundheitszustands der Tochter "auf Gott vertraut" und gehofft hätten, "dass Gott ihr hilft".

Er habe am Sonntag (die 13-Jährige starb am darauffolgenden Dienstag, Anm.) angefangen zu fasten und gebetet. Dass das Mädchen sterben könnte, habe er zwar vermutet, dennoch aber immer weiter gehofft. "Wir glauben auch daran, dass Gott Tote auferwecken kann", gab der 39-Jährige Einblick in das religiöse Verständnis der Familie. Die "Gemeinde Gottes", die evangelikale Religionsgemeinschaft, der er und seine Familie angehören, charakterisierte der Angeklagte unter anderem als strikt bibeltreu mit konservativen Moralvorstellungen und dem Glauben an Wunderheilungen.

Der 13-Jährigen habe er dennoch angeboten, zum Arzt zu fahren, "aber sie wollte nicht. Sie hat ihr Vertrauen auf Gott gesetzt". Die Erkrankte habe gesagt "wenn Gott sie nicht heilt, will sie in den Himmel". Den Willen des Mädchens zu respektieren, sei in der Nachbetrachtung jedoch falsch gewesen, das sei ihm nun "mehr klar". Über Tage hinweg zuzuschauen, wie das eigene Kind stirbt, könne man nur, wenn einem Gott helfe. Wieder so lange nicht handeln würde er jedoch nicht: "Ich habe eine Verpflichtung gegenüber den Kindern."

Generell würden er und seine Frau lieber auf Gott als auf die Medizin setzen, denn: "Gott heilt jede Krankheit". Die meisten Ärzte seien ungläubig und daher keine Diener Gottes. Ins Spital zu gehen, sei ein Zeichen eines schwachen Glaubens. Er selbst sei "nur einmal im Krankenhaus" gewesen. In diesem Fall habe ihn Gott nicht heilen können, antwortete der Beschuldigte auf eine entsprechende Frage der vorsitzenden Richterin.

Mutter: "Würde nun Arzt anrufen"

Die 35 Jahre alte Beschuldigte im Kremser Prozess um Mord durch Unterlassung hat bei ihrer Befragung am Mittwochnachmittag auf die letzten Stunden im Leben ihrer verstorbenen Tochter zurückgeblickt. Aus jetziger Sicht "würde ich einen Arzt anrufen", betonte die deutsche Staatsbürgerin.

In den Stunden vor dem Tod sei die 13-Jährige kaum mehr zum Sprechen fähig gewesen. Wie ihr Ehemann hob auch die 35-Jährige hervor, dass die Tochter ganz klar gegen eine ärztliche Behandlung war. "Ich sehe es jetzt ein, dass es falsch war, ihr die Entscheidung zu übergeben. Aber wir haben ihre Meinung respektiert."

Anstatt einen Notruf abzusetzen, habe sie mit ihrer Tochter gesprochen, sie gestreichelt und intensiv gebetet. "Ich habe erwartet, dass Gott sie gesund macht. Er hat uns immer geholfen - es gab keine Ursache, wieso er nicht helfen sollte." Nun, nach dem Tod der Tochter, sei sie zum Teil enttäuscht von Gott: "Keine Mama möchte doch, dass ihr Kind stirbt", sagte die Deutsche unter Tränen.

Medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, wäre aus religiösen Gründen durchaus in Ordnung gewesen, befand die 35-Jährige. Auch sie selbst sei öfters in Krankenhäusern gewesen und habe ihre Kinder "fast alle im Spital entbunden". Konfrontiert mit dem schlechten Gesundheitszustand ihrer Tochter habe sie über das Krankenhaus aber nicht nachgedacht, sondern sich auf das Beten fokussiert.

Die Ärztin, die die anderen Kinder des Ehepaares nach dem Tod der 13-Jährigen untersucht hatte, erzählte im Zeugenstand von einem Gespräch mit den Beschuldigten. Beiden Deutschen sei mehrere Stunden vor dem Ableben des Mädchens klar gewesen, dass es sterben würde, blickte die Medizinerin zurück.

Wolfgang Denk, der gerichtsmedizinische Sachverständige, ortete einen "dramatischen Verfall" der 13-Jährigen in ihren letzten Lebenstagen. Bei einer Größe von 1,60 Metern habe das Kind nur noch 30 Kilogramm gewogen, "jegliche Fettschicht" habe gefehlt. Gestorben ist das Mädchen dem Gutachter zufolge an einer auf eine chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung aufbauenden Zuckerstoffwechselentgleisung.

Der Prozess wurde bis 14.45 Uhr unterbrochen. Im Anschluss waren unter anderem weitere Zeugeneinvernahmen geplant.