Nachdem sie Deutschland auf Linie gebracht hat, schwebt der deutschen Kanzlerin nun noch Höheres vor: die Merkelisierung ganz Europas.

Auf den ersten – und auch zweiten – Blick ist Deutschland ein intakter demokratischer Staat. Die Gewaltenteilung funktioniert. Es gibt den Bundestag und den Bundesrat, eine Bundesregierung und Gerichte, die sich nicht scheuen, Klagen von Bürgern gegen Ämter und Behörden stattzugeben. Das Bundesverfassungsgericht hat öfter Beschlüsse der Regierung und des Parlaments als verfassungswidrig aufgehoben. Wenn die Regierung eine Partei verbieten will, kann sie das nicht par ordre du mufti tun, sie muss das Bundesverfassungsgericht anrufen.

Auch der ausgeprägte Föderalismus sorgt dafür, dass die Macht gleichmäßig verteilt wird. Es gibt 16 Bundesländer mit 16 Landtagen und 16 Ministerpräsidenten. Drei dieser Bundesländer – Bayern, Sachsen und Thüringen – nennen sich „Freistaaten“, womit sie nicht nur Traditionspflege betreiben, sondern auch ihre Eigenstaatlichkeit und eine gewisse Distanz gegenüber dem Bund betonen. Die geht in Bayern so weit, dass die CSU zwar mit der CDU eine Fraktion im Bundestag bildet und zusammen mit der „Schwesterpartei“ mit am Kabinettstisch sitzt, zugleich aber die Regierung immer wieder heftig angreift. Und so kann man in Berlin immer wieder den Satz hören: „Ohne die CSU hätten wir gar keine Opposition.“

Zuletzt hat der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer in einem Zeitungsinterview erklärt: „Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts“, und damit für große Aufregung auf allen Seiten gesorgt. Der Bayer betreibt auch Außenpolitik auf eigene Faust, indem er den russischen Präsidenten Putin und den ungarischen Ministerpräsidenten Orbán besucht, um so die Kanzlerin vorzuführen.

Die Hunde bellen . . .

Freilich – die ficht all das nicht an. Sie regiert nach dem Motto: Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter – ein orientalisches Sprichwort, auf das sich bereits Helmut Kohl, Angela Merkels politischer Ziehvater, gerne bezog. Noch nie – nicht einmal unter Adenauer – ist die Bundesrepublik so autoritär „durchregiert“ worden wie unter der in Hamburg geborenen und in der DDR aufgewachsenen Pastorentochter, die bei ihrer ersten Wahl zur Kanzlerin im Jahre 2005 noch voller Demut versprach, sie wolle „Deutschland dienen“.

Das tut sie auch, wenn auch auf eine sehr eigenwillige Art. Sie ist im Begriff, die Bundesrepublik in eine neue, größere DDR zu verwandeln, ohne Mauer, ohne Ausreiseverbot und ohne Mangelwirtschaft. Den Bürgern soll es an nichts fehlen, sie sollen nur die Klappe halten und sich jeglicher Kritik an der Chefin enthalten. Der ZDF-Moderator Claus Kleber brachte es vor Kurzem auf den Punkt, als er gegen „Fremdenfeinde, Nationalisten und Zweifler“ polterte, die sich der von der Kanzlerin geforderten und verkörperten „Willkommenskultur“ in den Weg stellten. Und wenn die Kanzlerin ein Wort an ihr Volk richtet, klingt sie wie ein ostelbischer Rittergutsbesitzer, der zu seinem Gesinde spricht. Sie lobt, sie tadelt, sie sagt, was das Volk tun und was es lassen sollte, sie rät zum Beispiel dringend davon ab, jenen zu folgen, „in deren Herzen“ nicht die Liebe lebt, sondern „Vorurteile, Kälte, ja, sogar Hass“ pochen. Die promovierte Physikerin als Amateur-Kardiologin, die sehen kann, wie es in den Herzen ihrer Untertanen zugeht.

Manchmal geht sie noch weiter und droht im majestätischen Plural damit, sich ein anderes Volk zu suchen: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Meisterin des Vagen

Nun hat es niemand der Kanzlerin untersagt, ein freundliches Gesicht zu zeigen; ihre Kritiker wären schon froh, wenn sie erklären würde, was sie eigentlich vorhat, statt immer wieder auf die Phrase zu rekurrieren, man müsse „die Ursachen der Flüchtlingskrise“ bekämpfen, und Plattitüden zu wiederholen wie „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ und „Der Glaube kann Berge versetzen“. Manchen würde es schon reichen, wenn sie in klaren, verständlichen Worten reden und auf die Merkel-typischen Bandwurmsätze verzichten würde, die man nach Belieben interpretieren kann. So wie sie vor ein paar Tagen, ohne ein freundliches Gesicht aufzusetzen, gesagt hat: „Es gibt Übernachtungsmöglichkeiten und Aufenthaltsmöglichkeiten auch in Griechenland, die müssten auch von den Flüchtlingen genutzt werden . . .“

Das war an die Adresse der „Schutzsuchenden“ gerichtet, die an der griechisch-mazedonischen Grenze feststeckten und im Vertrauen auf das Versprechen der Kanzlerin, es werde keine „Obergrenzen“ geben, nach Deutschland weiterwollten. Ihnen zuzurufen, es gebe auch in Griechenland Übernachtungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten, war die aktuelle Variante des Rates, den die französische Königin Marie Antoinette den Armen und Hungernden gegeben haben soll: „Esst doch Kuchen, wenn ihr kein Brot habt!“ Auch die Kanzlerin verfällt gelegentlich in einen royalen Tonfall. Sie sagt gerne „Ich gehe davon aus“, „Ich glaube“, „Ich bin fest davon überzeugt“. In ihrem letzten Solo-Auftritt bei Anne Will sagte sie auch: „Meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit besteht darin, dass dieses Europa einen gemeinsamen Weg findet.“ Und wenn sie es nicht schafft? Dann ist das „nicht mein Europa“.

Zum Wohle Europas

Im Laufe der Debatten um die europäische Integration wurde auch darüber gestritten, ob Deutschland europäischer oder Europa deutscher werden würde. Nun zeichnet sich ein dritter Weg ab: die Merkelisierung Europas. Es ist die „verdammte Pflicht“ der deutschen Kanzlerin, dass Europa einen gemeinsamen Weg findet.

Eigentlich wäre das die Aufgabe des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates. Nachdem sie aber das deutsche Parlament mit der Großen Koalition entmachtet hat, schreitet Merkel voran und umgeht die europäischen Institutionen. Natürlich nur zum Wohle Europas, als hätte sie es mit einem schwer erziehbaren Kind zu tun, das zu seinem Glück gezwungen werden muss.

Das ist deutscher Größenwahn in Reinkultur. Die Überzeugung, dass man nicht nur gut, sondern besser ist als die anderen.