Zunächst wollten Sie Sport studieren. Nach einem Unfall wurde es Medizin. Wie kamen Sie zur Neonatologie, der „Frühchenmedizin“?
Hubert Messner: Es sind zwei Dinge. Die berufliche Chance in den frühen 70er-Jahren, als die Neonatologie ein ganz neues Fach war. Mein Vorgesetzter hatte die Vision, in Südtirol eine Station aufzubauen. Er hat mich in jungen Jahren sehr gefördert und ich war Teil dieser Vision. Nach Berufsetappen in Toronto und London bin ich zurück, um das wichtige Vorhaben voranzubringen. Unsere anfangs kleine Station hat sich zu einem exzellenten Team mit sehr guten pflegerischen Fähigkeiten entwickelt und mit einer Empathie, wie ich sie sonst nirgends gesehen habe. Zum anderen begleitet man in diesem Beruf ein Kind von Anfang an und als Ganzes über viele Jahre hinweg, nicht nur punktuell. Man ist Teil seiner Entwicklung und baut Beziehungen auf. Das ist das Schöne an diesem Fach.

Auf der Frühchenstation waren Sie damit konfrontiert, wie nahe Leben und Tod beieinanderliegen. Wie findet man eine Antwort auf diese existenzielle Frage?
Hubert Messner: Geht man vom rein technisch Möglichen aus, so hat sich die Grenze der Lebensfähigkeit von der 28. auf die 22. Schwangerschaftswoche verschoben. Aber man muss sich fragen, was ist das Leben, und am Ende muss man mit den Eltern eine Entscheidung treffen, die von allen getragen wird. Der Weg dahin geht über Beobachtung. Das Verhalten des Kindes, der Gesichtsausdruck, die Mundmotorik. Dabei setzt man sich mit der Frage auseinander, ob das Kind ins Leben will. Das braucht Zeit und Erfahrung. Die Kinder machen in dieser kritischen Phase tatsächlich eine Gratwanderung. Wir als Ärzte müssen dabei verstehen, ob dieser Weg ins Leben führt oder in eine Situation, in der sich schwere Komplikationen entwickeln und Kinder dann schnell versterben können. Die für mich persönlich schwierigste Situation war, als mein Sohn Alex in der 29. Woche zur Welt kam. Dieses Vorgehen, die prognostisch individuelle Strategie, ist sicher die anstrengendste, weil man nicht allein auf technische Daten und Routine setzen kann. Aber sie wird meiner Meinung nach dem Leben am meisten gerecht.

Von Ihrer Mutter haben Sie viel über das Leben und das Sterben gelernt, inwiefern?
Hubert Messner: Meine Mutter war eine sehr religiöse Frau. Sie hat ihr Leben gelebt und sie hatte Freude in ihrem Leben, auch in der Armut, die da war. Sie war aber auch die Frau, die irgendwann, als ihr die Stiegen schwerfielen, gesagt hat, ich spüre, es ist Zeit zum Sterben. Sie sagte das ganz einfach. Sie hat das Leben und das Sterben als solches angenommen. Das hat mich als Arzt und Mensch sehr beeindruckt und geprägt – das Sterben gehört zum Leben.

Reinhold Messner
Reinhold Messner © APA/EXPA/JOHANN GRODER (EXPA/JOHANN GRODER)



Als Expeditionsarzt haben Sie Ihren Bruder im Himalaya begleitet. Später waren Sie zu zweit in der Eiswüste Grönlands und am Nordpol. Wie haben Sie sich auf diese Abenteuer vorbereitet?
Hubert Messner: Für die Kälte haben wir kalt geduscht. Zunächst in kleinen Intervallen und dann bis 20 Minuten. Dabei sinkt die zentrale Körpertemperatur von normal 36,5° C, 37° C auf 35° C ab. Der Stoffwechsel verlangsamt sich und man spürt die Kälte viel weniger. Das Reizleitungssystem wird quasi auf die neue tiefe Temperatur eingestellt. Unseren Grundumsatz unter Kältebedingungen haben wir im Kühlhaus bei – 20° C studiert. Insgesamt und mit der mentalen Vorbereitung – die Angst vor dem Unbekannten ist auch da – geht es zwei Jahre, bis man die physische Fitness und die Ausdauer hat.

Auf dem Weg zum Nordpol sind Sie von einer Eisscholle in das kalte Wasser gefallen. Normalerweise überlebt man so etwas nicht.
Hubert Messner: Das Wasser hat konstant zwei Grad, das ist nicht das Problem. Und wir hatten speziell angefertigte wasserdichte Kleidung. Aber um uns herum bewegten sich haushohe Eisblöcke, wie ein riesiges Mahlwerk, das uns mit dem gesamten Material zermalmt hätte. Mit Reinholds Hilfe habe ich es aus dem Wasser geschafft. Die Kleidung war sofort ein Eispanzer, den wir abgepickelt haben. Und dann sind wir im Adrenalinrausch stundenlang weitergegangen.

Auf diesen Expeditionen lernt man Ihren Bruder Reinhold einmal nicht als den physischen und psychischen Übermenschen kennen. Sondern als risikobewusst, fürsorglich, als jemanden, der in kritischen Situationen richtig handelt.
Hubert Messner: Das ist richtig. Mein Bruder ist ein sehr vorsichtiger und ängstlicher Mensch, und für mich war er immer der Bruder, kein Übermensch. Auf den Expeditionen war klar, dass jeder für sich selbst verantwortlich war. Aber in den kritischen Situationen war er der Fürsorgliche und hat Verantwortung übernommen. Er ist diese Person und nicht jene, die die Öffentlichkeit in ihm sieht, das möchte ich in meinem Buch klar differenzieren. Was mit Günther passiert ist, hat Reinhold sein ganzes Leben lang verfolgt. Und in der Familie herrschte lange Zeit eine Sprachlosigkeit, weil man den Unfall nicht verstanden hat. Auf der anderen Seite standen die Anfeindungen durch die Presse, das macht etwas mit einer Familie. Aber Reinhold hat auch einen Bruder verloren und vielleicht hätten wir uns schon früher explizit auf seine Seite stellen sollen.

Welche Rolle spielt Ihre Frau bei der Gratwanderung durch Ihr Leben als Arzt, Abenteurer, Familienvater und Ehemann?
Hubert Messner: Meine Frau spielt eine ganz wichtige Rolle. Sie hat das Gleichgewicht in der Familie und zu Hause gehalten. Ich war viel weg. Zu Hause zu bleiben war ihre Entscheidung, auch nachdem unser erster Sohn eine Frühgeburt war und intensive Betreuung und einen verlässlichen Fixpunkt brauchte. Meine Frau sagt, sie fühlt sich wohl damit. Diese Arbeit zu Hause und in der Familie ist hart. Ich hätte sie nicht geschafft. Wir hatten immer Wertschätzung für das, was der andere beigetragen hat, und haben Freude, dass unsere Kinder sehr gut geraten sind.

In Ihrer Jugend haben Sie auf Almen gearbeitet und das Studiengeld verdient. Heute nach der Arztkarriere arbeiten Sie wieder auf der Alm. Schließt sich hier ein Kreis?
Hubert Messner: Dass den Bergbauern geholfen wird, ist immens wichtig. Das Leben dort oben ist einfach und hart. Ich hatte mir immer vorgenommen, das wieder zu machen. Es ist Arbeit mit den Händen am Berg von Sonnenaufgang bis spät abends. Insofern schließt sich der Kreis. Ich liebe diese archaische Welt und die Zurückgezogenheit. Das alles gibt mir große Zufriedenheit.

Hubert Messner, Lenz Koppelstätter. Der schmale Grat: Als Arzt und Abenteurer zwischen Leben und Tod. Ludwig-Verlag. 224 Seiten, 22,70 Euro.
Hubert Messner, Lenz Koppelstätter. Der schmale Grat: Als Arzt und Abenteurer zwischen Leben und Tod. Ludwig-Verlag. 224 Seiten, 22,70 Euro. © Ludwig Verlag