Es ist dieser Tage schwer zu vermitteln, wie das ist, in Kalifornien zu leben. Zu viel passiert auf einmal und dieses Zuviel lässt keinen einzigen der fünf Sinne unberührt. Die vergangene Woche war wieder so eine, in der die Götter auf den Golden State hinunterschauten und sich offenbar sagten: So, und jetzt schauen wir einmal, wie die mit all dem fertigwerden.

Nummer eins: das Wetter. Anfang der Woche waren auf die letzte Hitzewelle, die von San Francisco bis San Diego für gigantische Flächenbrände und Dutzende Tote sorgte, endlich ein paar kühlere Tage gefolgt. Grund zum Aufatmen gab es trotzdem weder für die Feuerwehr noch für die Rettung. Denn auch wenn es in Kalifornien nicht vom Himmel brennt, sind da immer noch die Winde: Im Norden die nicht umsonst nach dem Leibhaftigen getauften „Diablos“ und im Süden die „Santa Anas“; sogenannte Gefällewinde, deren kennzeichnendes Merkmal enorme Stärke gepaart mit extremer Trockenheit darstellt. Anfang der Woche hatten Letztere Teile des Los Angeles vorgelagerten Orange County derart unter Feuer gelegt, dass fast 100.000 Menschen in Sicherheit gebracht werden mussten. Die Rauchwolken hingen derweil weit in die Zehn-Millionen-Metropole hinein und verströmten jenen seltsam süßlichen Geruch, der mancherorts schon zur täglichen Begleiterscheinung zählt.

Flächenbrände in Kalifornien
Flächenbrände in Kalifornien © AFP (ROBYN BECK)

Nummer zwei: das Virus. Wenn diejenigen Kalifornier, die ihre Stimmen bis dahin noch nicht abgegeben haben, am Dienstag in die Wahllokale gehen, wird die Zahl derer, die sich angesteckt haben, bei knapp einer Million liegen. Bisher sind rund 18.000 an oder mit Covid-19 gestorben, von mittlerweile insgesamt rund 230.000 Amerikanern. Obwohl sich in den Metropolen die überwältigende Mehrheit an die üblichen Vorschriften hält, bringt nur Texas so viele Fälle zusammen. Was auch an vereinzelten „Superspreader Events“ liegt, wie jenes vom vorigen Dienstag. Als die Los Angeles Dodgers um halb neun Uhr im texanischen Arlington den letzten Pitch gegen die Tampa Bay Rays versenkten und der Stadt der Engel die Baseball-Meisterschaft sicherten, brachen kurzfristig alle Dämme. Während das Rathaus in Dodgers-Blau erstrahlte und die Skyline von Feuerwerk erleuchtet wurde, strömten Tausende auf die Straße, um den ersten Sieg in der World Series seit 1988 zu feiern.

Als ob dem allen nicht genug wäre, Nummer drei: die Präsidentenwahl. Nämliche stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten, selbst hier, wo die Demokraten das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit regieren und die einzige Frage lautet, ob Joe Bidens Sieg mit 30 oder 40 Prozent Vorsprung ausfallen wird. Aber wie kommt es, dass Kalifornien mit seinen rund 40 Millionen politisch derart anders tickt als der Rest des Landes?

Tesla-Chef Elon Musk
Tesla-Chef Elon Musk © (c) AFP (ODD ANDERSEN)

So mannigfaltig sich die Gründe für den Sonderweg darstellen, so logisch und fast banal erscheinen sie auf den zweiten Blick. Wirtschaftlich steht Kalifornien seit jeher ungleich besser da als alle anderen Bundesstaaten. Nachdem sich eine Mehrheit der Briten 2016 für den Brexit entschied und dessen erste ökonomische Folgen zutage traten, stieg Kalifornien von der sechst- zur nunmehr fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt auf. Für sich allein genommen betrug das Bruttoinlandsprodukt 2019 rund 3,2 Billionen Dollar – größer als das von Indien. In manchen Teilen Kaliforniens, allen voran dem, der unter dem Chiffre Silicon Valley firmiert, wird trotz Coronakrise und explodierenden Arbeitslosenzahlen Geld gescheffelt wie Heu.

Wiewohl milliardenschwere Rechtsausleger wie der Trump-Verehrer Peter Thiel (Facebook, Paypal) oder der in sozialen Medien als „Sozi-Fresser“ bekannte Tesla- und Space-X-Gründer Elon Musk seit Langem drohen, ihre Unternehmen nach Texas auszulagern, haben sie ihren Worten bisher nur eingeschränkt Taten folgen lassen. Selbst die Filmindustrie, wiewohl in den vergangenen zwei Jahrzehnten signifikant geschrumpft – was der Rest der Welt unter dem Kürzel Hollywood subsumiert, beschäftigt heute nicht einmal mehr drei Prozent der Werktätigen von LA County –, freut sich über einen Schub an Konsumenten, die weltweit virusbedingt zu Hause bleiben.

© (c) AFP (DENIS CHARLET)

Den Sonderweg erklärt aber weder der Einfluss der neuen Digital- noch jener der klassischen Unterhaltungsindustrie. Der Schlüssel zum Verständnis, wie ausgerechnet jener Staat, der konservative Ikonen wie Richard Nixon und Ronald Reagan hervorbrachte, zur Festung der Demokraten mutierte, liegt allem voran an jenen demografischen Veränderungen, vor denen sich die Träger von Trumps „MAGA“-Kapperl im Rest des Landes fürchten wie der Teufel vorm Weihwasser.
Auch wenn es keine ethnisch dominante Gruppe in Kalifornien gibt, stellen Weiße dort nicht mehr die Mehrheit. Laut aktueller Zahlen setzt sich seine Bevölkerung so zusammen: 39 Prozent Latinos und Hispanics, 37 Prozent Weiße, 15 Prozent Asien-Stämmige, sechs Prozent Afroamerikaner, drei Prozent multiethnisch, ein Prozent Ureinwohner und Zugezogene von den Pazifischen Inseln. Bis in die Neunziger noch als „Swing State“ geltend, schafften sich die Republikaner seitdem selber sukzessive ab – ironischerweise mithilfe genau jener Parolen, die Trump seit vier Jahren landauf, landab propagiert. Mit Gesetzen und Verordnungen, die offen auf die Einschränkung der Rechte aller Nicht-Weißen, Nicht-Heterosexuellen und legalen wie illegalen Einwanderer abzielten, schrumpften die kalifornischen Republikaner demografiegegeben weiter.

Das Zahlenwerk ist schon jetzt dramatisch: Von den 53 Abgeordneten zum Repräsentantenhaus, die die kalifornische Delegation stellt, zählen die Demokraten heute 45, die Republikaner sieben. Der verbleibende Sitz eines 2019 wegen Korruption und Amtsmissbrauch rechtskräftig verurteilten Konservativen aus San Diego bleibt bis zur Wahl verwaist. Kurioser Nebeneffekt: Mit Nancy Pelosi und Kevin McCarthy stellt der Bundesstaat im Unterhaus sowohl die Mehrheitssprecherin wie den Vorsitzenden der Minderheit. Falls Biden gewinnen sollte, wird Kalifornien zudem eine Vizepräsidentin bekommen: Kamala Harris dient bis heute neben Dianne Feinstein als Senatorin, die erste Afroamerikanerin in dieser Funktion.

Sollte sich Biden an seine im Wahlkampf gemachte Ankündigung halten und nach nur einer Amtszeit den Hut nehmen, wird die Frage an Amerika 2024 lauten, ob es bereit ist für eine schwarze Frau im Weißen Haus. Eine aus jenem Bundesstaat, in dem die Zukunft, die dem Rest des Landes und der Republikanischen Partei angesichts der demografischen Entwicklungen noch bevorsteht, bereits Gegenwart ist – und weder Wetter, Wind noch Viren können daran etwas ändern.