Liebe Oma,

wenn ich dich anrufe, klingt deine Stimme jetzt manchmal als käme sie direkt aus dem Grab. Düster und trostlos. Dabei bist du für deine 95 Jahre wirklich noch sehr agil und lebendig. Aber du lebst im Heim. Nicht besonders gerne - du fügst dich halt irgendwie in dein Schicksal. So wie es deine Generation viel mehr gewohnt ist, als wir es sind. Aber glücklich bist du nicht, das macht uns zu schaffen. Nun hört man dir das zusehends an, denn was sonst Fröhlichkeit und Lebendigkeit zu dir gebracht hat - nämlich unsere Besuche, besonders dein siebenjähriger Urenkel - das bleibt nun aus.

Dabei sind wir eigentlich so nah: Es ist nur ein zehnminütiger Fußmarsch, schließlich wollten wir dich weiterhin gerne in unserer Nähe haben, auch wenn du nicht mehr alleine wohnen konntest. Dabei warst du immer aktiv, meine "Wiener Oma" mit dem geliebten Garten, in dem du mich bis in die Spitze des Marillenbaumes klettern ließest. Du hast die besten Mehlspeisen der ganzen Welt für mich gebacken und bist noch lange fleißig gewandert. Du hattest deine Ordnung und deine Ruhe. Diese Selbstbestimmtheit ist nun Geschichte. 

Das Besuchsverbot des Heimes ist Fluch und Segen zugleich. Schließlich liest man über eingeschleppte Viren, die die Bewohner ganzer Altersheime in Frankreich einfach so dahingerafft haben. Hochrisikogruppe - da bleiben wir natürlich lieber fern. Doch manchmal fragst du bei einem unserer Anrufe ganz verwundert, ob wir denn zu Hause seien? Wir, die wir sonst oft schon zum nächsten Termin unterwegs waren. Es scheint, dass dir der Umbruch, der sich in unseren Leben derzeit abspielt, gar nicht so bewusst ist. Dein Leben im Heim ist verhältnismäßig gleich geblieben – nur eben eintöniger.

Beim letzten Telefonat mit dir mein Ausdruck der Hoffnung, dass das Ganze bald ein Ende haben möge. Darauf du: "Ob ich das Ende noch erleb?" - und es war nicht sprichwörtlich gemeint. Ja, halte durch, wir sind bald wieder so richtig bei dir und dann feiern wir meinen Geburtstag und nehmen dich in und auf den Arm, um dich wieder herzlich lachen zu sehen. Versprochen!

Deine Nora