„Alle Macht geht vom Volk aus - aber wo geht sie hin?“ Die von Bertolt Brecht formulierte Frage ist in Wahlkampfwochen wie diesen aktueller denn je. Interviews, Duelle, Elefantenrunden, Bierzeltauftritte: Das Werben um Wählerstimmen wuchert seiner Vollblüte entgegen. Vordergründig geht es um Programme, Ideen und Konzepte zur Zukunftsbewältigung. De facto um Macht. Möglichst ungeteilt – oder nach Koalitionsverhandlungen zumindest maximal vorteilhaft verteilt – wird sie von den einzelnen Parteien angestrebt. Im Katechismus aller ideologischen Interessensgemeinschaften gilt diesbezüglich in Anlehnung an den großen Star Wars-Philosophen Obi-Wan Kenobi: „Möge die Macht mit uns sein!“
Macht ist die Tiefengrammatik der Gesellschaft. Sie durchdringt nahezu alle Bereiche des Lebens und nimmt viele verschiedene Formen an. Egal ob in liberalen Demokratien, totalitären Diktaturen oder christlichen Ehen ist sie eines der zentralen Konzepte zwischenmenschlicher Existenz und Interaktion. Egal, ob in der Politik, Wirtschaft, in Beziehungen oder in der Kultur – Macht beeinflusst unsere Entscheidungen, unser Handeln und sogar unsere Gedanken. Sie ist aber nicht homogen oder eindimensional, sondern vielschichtig, facettenreich und kontextabhängig.
Macht ist vielfältig
Diesem bunten Portefeuille des Phänomens „Macht“ widmet sich die vom Grazer Ökonomen Michael Steiner herausgegebene, druckfrisch vorliegende Ausgabe der Zeitschrift „WAS“ (Lit Verlag, Wien). Namhafte Autorinnen und Autoren beleuchten darin aus psychologischer, politischer, soziologischer, theologischer bis hin zu medizinischer und sportlicher Sicht die verschiedenen Aspekte, Anwendungsfelder und Aggregatszustände von Macht. Ein weites Feld. Denn Macht, gibt Steiner zu bedenken, „ist so multidimensional und vielfältig wie der gesamte Raum menschlicher Erfahrungen: schwer lokalisierbar, weitreichend, oftmals unergründlich. Und nicht zuletzt: endlich.“
Das wissen vor allem Politiker. Auch für sie – die vermeintlich Mächtigen – ist es nicht einfacher geworden. Denn selbst wenn Macht gerne mit Stärke assoziiert wird, bleibt sie - beziehungsweise ihre Ausübung – zwar als Ordnungskraft um Chaos zu verhindern und Sicherheit zu gewährleisten, auch in freien Demokratien unverzichtbar. Menschen werden neben Gesetzen auch durch soziale Normen sowie durch wissenschaftliches Wissen diszipliniert und kontrolliert. Diese Formen der Macht sind oft unsichtbar, aber sie regulieren und formen das Verhalten der Menschen auf subtile Weise.
Manchmal samtpfötig, manchmal brutal
Als gesellschaftliches Bindemittel ist ihre Textur aber diffuser und volatiler geworden, blickt Wolfgang Schüssel in dem knapp 300-seitigen Band auf seine 18 Jahre in der Bundesregierung und sieben Jahre als Bundeskanzler zurück, in denen er sich einer Heerschar an „Mitmächtigen“ gegenübersah: „Konzerne, Tech-Giganten, Medien-Tycoone, NGOs, Bürgerinitiativen, Parteien, Richter, Staatsanwälte, Lehrer, Ärzte, Bürokraten, Influencer, Religionsautoritäten, Gewerkschafter, Popstars und Bestseller-Autoren, Polizisten, Generäle, Investoren, Terroristen – sie alle haben Macht und üben sie auch aus.“ Dazu kommen Fälle von Machtmissbrauch, sei es durch Korruption, Nepotismus, Manipulation von Informationen oder brutale Gewaltausübung, Freiheitsberaubung und Unterdrückung.
Mit Macht sei das demnach „so eine Sache“, schreibt Schüssel: Sie „kann samtpfötig auftreten oder sich brutal geben, sie kann sich auf die Verteidigung von Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaat und soziale Grundbedürfnisse beschränken oder in unmäßiger Regelungswut das Alltagsleben beeinflussen“. Als gemeiner Staatsbürger kennt man sämtliche Spielarten dieses Repertoires – entweder als steuerpflichtiger Beitragszahler, förderungswürdiger Begünstigter oder fassungsloser Beobachter. Falls der Unmut dabei zu groß wird, protestiert, demonstriert oder klebt man sich den Frust von der Seele. Ob ziviler Ungehorsam oder kreative Formen des Widerstands, wie Kunst oder Satire:
Die entsprechenden Waffenarsenale der Wutbürger sind gut gefüllt.
Der Preis der Demokratie
Der Kampf um die Macht kann damit auch zum Kalkül mit der Ohnmacht werden, wie Constanze Dennig in ihrem Beitrag aufzeigt. Die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und Theaterautorin sieht überhaupt ein „Zeitalter der angeblichen Ohnmacht“ angebrochen: „Wir werden gemobbt, wir werden diskriminiert, wir werden ausgenutzt. Wir müssen überall zu viel bezahlen, seien es Energie, Mieten, Benzin, wir verdienen zu wenig, der Staat lässt uns im Stich“, formuliert sie scharfzüngig und zugespitzt. Dennig ortet neue gesellschaftliche Machtverschiebungen, „wo die ins Netz gestellte Ohnmacht und Unterdrückung die neue tatsächliche Machtausübung ist; wo die Machtlosen durch ihre Stimme bei Wahlen die Mächtigen zwingen können, Entscheidungen zu ihren Gunsten zu fällen und die Politik nur noch als Verteiler von Almosen an die, die ihre Ohnmacht am besten verkaufen können, agiert“.
Kann man so sehen. Oder auch unter dem Titel „Solidargemeinschaft“ und „Preis der Demokratie“ verbuchen. Jedenfalls ist die so ausgelebte „Macht der Ohnmacht“ an ein gewisses Wohlstandsniveau und friedliche Zustände gebunden. Man muss sich das Ausleben demokratischer Rechte und das Unterstützen von „Schwachen“ nämlich auch leisten können. Im Konflikt- oder gar Kriegsfall drängen dagegen auch Empathie und Mitgefühl für die Ohnmächtigen auf die Opferlisten.
Was bleibt, ist ein höchst fragiles gesellschaftliches Gesamtkonstrukt aus Masse und Macht, in dem neue Legitimitätszwänge wirken und eine zunehmende Schieflage spürbar wird. Es scheint, als fallen beide – Masse (als Gesellschaft) und Macht (als Staat) - hinsichtlich ihrer gegenseitigen Bezüglichkeit und Handhabbarkeit immer mehr auseinander. Das Herrschaftsbegehren des Staates gegenüber der Masse kontrastiert mit einem immer übermächtiger werdenden Autonomiebegehren der Masse gegenüber dem Staat. Für ein unbeschwertes Binnenverhältnis von Macht innerhalb einer Gesellschaft braucht es jedoch ein Mindestmaß an Denk- und Verhaltenshygiene, unerschütterliche Gesprächsbereitschaft, respektvolle Streitfähigkeit und vor allem Toleranz – in seiner politischen Übersetzung: den schon von Cicero eingemahnten Ausgleich der Gegensätze und die Bereitschaft zu Konsens und Kooperation. Beides scheint nicht nur aufgrund des lodernden Wahlkampfs gerade nicht mehrheitsfähig zu sein.
Wohin geht die Macht also? Nach links? Nach rechts? Wandert sie zum Volk oder verzieht sie sich in elitäre Herrschaftsghettos? Wie es scheint, hat sie sich in diesem Labyrinth gerade irgendwo verirrt.
Klaus Höfler