Wer die Grabeskirche in der Altstadt von Jerusalem als Pilger betritt, steht am Ziel seiner langen Reise. Der erste Ort, den er hinter dem Eingang vorfindet, ist der Salbungsstein, der an die Salbung des Leichnams Jesu auf Golgotha nach seiner Abnahme vom Kreuz erinnert. Das Wunderbare an dem Stein ist für mich seine unbestrittene ökumenische Mitte, die Tatsache, dass er als gemeinsamer Besitz der sechs in der Grabeskirche vertretenen Konfessionen außer Streit steht.

Griechisch-orthodoxe, römisch-katholische, armenische, syrisch-orthodoxe, koptische und äthiopisch-orthodoxe Christen wissen sich hier zu Hause. Um alles andere aber, was sich rund um den Salbungsstein befindet, wird seit jeher gerungen, gestritten, gekämpft. Wegen der in diesem Zusammenhang immer wieder aufbrechenden erheblichen Zerwürfnisse verwahrt die muslimische Familie Joudeh seit mehreren Jahrhunderten die Schlüssel der Kirche. Die ebenfalls muslimische Familie Nusseibeh schließt die Haupttür morgens auf und abends wieder zu.

Wer wie wir das Glück hat, an einem Sonntagmorgen die Grabeskirche zu besuchen, wird das Sang- und Klangerlebnis bei den Gottesdiensten der verschiedenen Konfessionen lange in Erinnerung behalten. Dazu der Weihrauch, die vielen Kerzen, die auch wir für unsere Lieben daheim entzünden, die unterschiedlichen Sprachen, die wir nicht zu begreifen brauchen, es genügt, davon ergriffen zu sein. Das alles lässt mich diesen Sonntag als Beten mit allen Sinnen nicht mehr vergessen.

An solchem Ort tanken viele Menschen auf, holen sich Kraft und Mut für die weiteren Wege im Leben. Einige unserer Reiseteilnehmer gestehen mir, sie wären hierhergekommen in der Hoffnung, durch den Besuch solcher Orte Kraft zu tanken, Mut zu schöpfen, um besser zu wissen, wie es im Leben weitergehen könnte.

Dazu liest sich das Schicksal des Propheten Elija wie die geradezu „heutige“ Geschichte eines Menschen, der nicht mehr weiterweiß. Sein einziger Wunsch besteht darin, hinauszuwandern in die Wüste, weg von den Menschen. Das Schlimmste in seelischen Krisenzeiten sind für die Betroffenen die neugierigen Fragen der Menschen, die nicht aus dem Wunsch zu helfen, sondern aus einer „eigenartig wurmstichigen“ Wissbegierde kommen. Elija wandert also eine Tagesreise weit in die Wüste hinein und legt sich dort mit dem Wunsch zu sterben unter einen Ginsterstrauch. Diese knappe Szene aus dem Ersten Buch der Könige ist wohl eine der frühesten Beschreibungen für das, was wir schwere Depression oder auch Burn-out-Syndrom nennen.

„Er kam nach Beerscheba in Juda und ließ dort seinen Diener zurück. Er selbst ging eine Tagesreise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod. Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein. Doch ein Engel rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Als er um sich blickte, sah er neben seinem Kopf Brot, das in glühender Asche gebacken war, und einen Krug mit Wasser. Er aß und trank und legte sich wieder hin. Doch der Engel des Herrn kam zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich. Da stand er auf, aß und trank und wanderte, durch diese Speise gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb.“ (1 Kö 19, 3-8)

Zwei Aspekte in dieser Erzählung erscheinen mir bemerkenswert: Zunächst ist es eine gerade in schweren Zeiten „lebensnotwendende“ Erfahrung, dass die wirksamste Therapie nicht greifen kann, wenn sie nicht angenommen wird, wenn der andere Mensch als „Engel“ keine Chance bekommt. Hilfe anzunehmen ist immer auch eine Übung der „Demut“, Mut also, einen angebotenen Dienst auch anzunehmen. Ich kenne viele Menschen, die dazu auch in äußerster Not nicht ohne Weiteres in der Lage waren. Es ist für mich manchmal sehr schmerzlich mitzuerleben, wie bei lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen aus dahinter versteckten „beziehungskriminologischen“ Gründen heilsame Angebote ausgeschlagen werden, so als wollte der Hilfsbedürftige den Helfenden mit seiner Weigerung, sich helfen zu lassen, bestrafen.

Der zweite Aspekt in dieser Geschichte klingt hoffnungsvoller. Es müssen nicht Pilgerstätten sein, deren Kraftplätze seit Jahrhunderten außer Streit stehen, es müssen nicht Wesen mit Flügeln sein, die einen Menschen in seiner Not zum Aufstehen und Weitergehen motivieren. An jedem Ort in dieser Welt kann das geschehen. Jeder Mensch kann jeden Tag einem anderen Menschen einen solchen Liebesdienst leisten, vorausgesetzt, dass er mit offenen Sinnen für die Not seiner Mitmenschen unterwegs ist. In einem mir seit dem Jahre 1968 sehr vertrauten Lied von Udo Jürgens heißt es: „Lächelt dir nur im Stadtgewühl / ein ganz Fremder zu, / der wohl denkt wie du ... Diese Sekunde Glücksgefühl, / kaufen kannst du sie /doch im Leben nie.“

Es müssen also nicht Pilgerstätten und auch nicht Engel mit Flügeln sein, die als Götterboten für neue Perspektiven, für Ermutigung, Auferstehung und Zuversicht sorgen. Manchmal genügt auch ein Ginsterstrauch.
So mancher Engel weiß gar nichts vom Glück, das er anderen auszurichten vermochte, wie zum Beispiel jene Frau irgendwo in Oberkärnten, die ihrer Nachbarin Suppenkräuter schenkt und erst Monate später erfährt, dass sie damit wahrscheinlich das Leben eines schwer verzweifelten Menschen gerettet hat.