Selbst eine Expertin auf dem Gebiet der Depression zu sein, macht nicht immun gegen die Krankheit. Diese Erfahrung musste die britische Psychiaterin Linda Gask machen, die seit Anbeginn ihres Erwachsenenlebens, seit mittlerweile 40 Jahren, gegen Phasen kämpft, „in denen die Welt ein dunkler, feindseliger und unversöhnlicher Ort zu sein scheint“, wie sie selber sagt. Sie betont: Nur allzugut wisse sie, wie schwer es sei, „positiv“ zu denken, wie andere oft fordern, „wenn man sich für vollkommen wertlos hält“. Nach mehreren Psychotherapien, einem halben Jahr Arbeitsunfähigkeit und durchgehender Einnahme von Antidepressiva seit mehr als 20 Jahren beweist gerade ihr Lebenslauf, dass es immer einen Weg nach vorn gibt, eine Möglichkeit, die Depression zu überwinden. Deshalb auch ihr Entschluss, ein Buch über „The Other Side of Silence“ zu schreiben, das vor Kurzem auch in deutscher Sprache erschienen ist - mit dem Titel "Meine Patienten, die Depression und ich".

Linda Gask hat eine Professur an der University of Manchester, ist Autorin mehrerer akademischer Lehrbücher und war als Beraterin für die Weltgesundheitsorganisation tätig. „Ich verbarg meine Gefühle, Sorgen und Ängste hinter meinem Deckmantel der Kompetenz“, erzählt sie und ergänzt: „Ich kam auf meinem Berufsweg voran und hatte eine wichtige Gemeinsamkeit mit meinen Patienten: Wir waren alle vom Leben verletzt worden.“

Linda Gask lebt mit ihrem zweiten Mann John und ihrer Katze in „halber Pension“ im Lake District in England
Linda Gask lebt mit ihrem zweiten Mann John und ihrer Katze in „halber Pension“ im Lake District in England © John Manton

„Verlust“ ist eines der Schlüsselwörter, wenn Gask über Depressionen referiert: „Die Lebensereignisse, die eine depressive Episode auslösen, haben normalerweise eines gemeinsam: Sie haben mit einem Verlust zu tun“, sagt sie und meint damit nicht nur den Verlust eines geliebten Menschen, sondern prinzipiell das Verlieren von etwas, das uns sehr wichtig ist: Gesundheit, Arbeit etc. „Um den Schmerz über den Verlust überwinden zu können, muss man jedoch etwas tun, was mir selbst nicht gelang, als ich meinen Vater verlor: darüber sprechen“, fügt Gask hinzu. Medikamente könnten nur bei der Behandlung der körperlichen Symptome helfen, etwa bei Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Energielosigkeit, sowie der Dämpfung von Suizidgedanken dienen.

"Wunden" - auch das ist ein wichtiges Wort, wenn Gask über Depressionen spricht: „Die meisten von uns brauchen Menschen, mit denen sie eine enge Vertrautheit verbindet. Aber genau in diesen Beziehungen werden wir zuweilen am meisten verletzt: emotional, physisch oder sexuell.“ Früh im Leben ein derartiges Trauma zu erleiden, erhöhe unsere Anfälligkeit für Depressionen, „weil unsere emotionale Belastbarkeit dadurch im Erwachsenenalter geringer ist und es uns schwererfällt, eine glückliche Beziehung zu führen“. Die eigene Dünnhäutigkeit und erhöhte Sensibilität, die für Depressionen anfälliger machen, haben freilich auch ihre guten Seiten: Gask erinnert sich noch lebhaft daran, wie ein Kollege während ihrer Ausbildung zu ihr sagte: „Du wirst eine gute Psychiaterin sein, weil du der sensibelste Mensch bist, dem ich je begegnet bin.“

Orientierungslosigkeit

Auch dieser Begriff taucht immer wieder auf, wenn Linda Gask über sich und ihre Patienten erzählt: „Ich habe gelernt, dass diese Momente des Chaos, in denen das Leben aus der Spur gerät, manchmal wichtige Botschaften über etwas enthalten, das wir ändern müssen – auch über die starren Erwartungen, die wir selbst und andere an uns haben und die wir infrage stellen müssen, bevor es zu spät ist. Wenn wir dies tun, können wir wieder beginnen vorwärtszugehen und versuchen, unsere Ziele zu erreichen.“

Beim Lösen seiner vermutlich größten Probleme kann man freilich eine unerfreuliche Entdeckung machen, wie Gask aus der Praxis weiß: „Die menschliche Psyche ist wie eine Zwiebel. Man kann eine Schicht von Problemen wegschälen, deckt dabei vielleicht aber eine weitere Schicht auf, die dann früher oder später ebenfalls Aufmerksamkeit verlangt.“
Angst vor Einsamkeit – auch sie wird zum Thema, wenn man das Phänomen Depression erklären will. Linda Gask sagt dazu: „Isolation, Einsamkeit und Depression sind eng miteinander verbunden. Von anderen getrennt zu sein, kann dazu beitragen, dass wir depressiv werden und auch unsere Gesundung hinauszögern.“ Das Problem ist ihrer Meinung nach, dass wir, wenn wir depressiv werden, oft anfangen, uns aktiv von anderen zu isolieren, weil es in diesem Zustand schwierig ist zu reden und zu anderen Vertrauen aufzubauen.

Alles eine Frage der Biologie?

Weniger eindeutig ist die Frage zu klären, wie weit Depressionen durch biologische Faktoren ausgelöst werden. Gask sagt dazu: „Es ist schwer zu glauben, dass sich die Komplexität menschlichen Denkens durch ein einfaches chemisches Ungleichgewicht erklären lässt. Ich habe gelernt, biologische, soziale und psychologische Determinanten bei psychischen Erkrankungen zu berücksichtigen, und für mich standen in den Therapien immer die beiden Letzteren im Vordergrund, obwohl ich auch Medikamente verschrieb.“ Gasks eigener Arzt habe ihr einst die Einnahme von Antidepressiva mit folgenden Worten empfohlen: „Die Tabletten werden Ihre Probleme natürlich nicht verschwinden lassen. Doch sie werden nach wenigen Wochen anfangen, Ihnen mehr Energie zu verleihen, und Ihnen helfen, ein bisschen besser zu schlafen. Sie werden Ihnen helfen, wieder klarer zu denken und sich eher in der Lage zu fühlen, einige dieser Probleme zu lösen.“ Gasks Resümee als Patientin: „Die Tabletten wirkten damals und sie tun es auch heute noch fast immer.“

Es gibt mehr als eine Depression

Ganz sicher ist sich Gask, dass Depressionen nicht einfach auf die Liste der Symptome reduziert werden können, die sich im „Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen“ (DSM) oder in der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten“ findet. Bei diesen Listen handle es sich um Konstrukte und Einschätzungen, was eine „Depression“ sein könnte. „Sie helfen uns bei der Forschung und der klinischen Arbeit, sollten aber nicht als unumstößliche Wahrheiten betrachtet werden. „Ich vermute, dass es nicht die eine Depression gibt, wie das DSM uns glauben machen möchte, sondern viele verschiedene Depressionen mit einigen gemeinsamen und einigen unterschiedlichen Merkmalen.“