Herr Arvay, in Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie, dass wir Menschen „Biophiliacs“, also Naturfreaks sind. Ist das auch in unserer modernen Zeit noch so?

CLEMENS ARVAY: Ja, denn wir sind eine natürliche Spezies und haben uns in einem langen Evolutionsprozess mit der Natur entwickelt. Der Mensch ist aber auch ein Kulturwesen - genau darum geht es mir: Unsere Lebensräume sollten beidem gerecht werden. Der Begriff „Biophilia“, die Liebe zum Lebendigen, geht auf Erich Fromm zurück und ist in jedem Menschen angelegt. Deshalb sollte auch jeder Mensch das Recht auf Zugang zu gesunden Ökosystemen haben - auch wenn er in der Großstadt lebt.

Aber wie gut funktioniert dieses Zusammenspiel in den heutigen Städten?

Das Begrünungspotenzial in unseren Städten ist noch lange nicht ausgeschöpft, auch wenn es bereits jetzt Ökosysteme in unseren Städten gibt, die oft wenig Beachtung finden - in Graz gibt es mitten in der Stadt den Schlossbergwald, in Wien gibt es im Prater ein richtiges Waldgebiet, in Berlin gibt es den Grunewald, der ein Refugium für seltene Tier- und Pflanzenarten ist. An diesen Beispielen sieht man, dass Natur und Stadt kein Widerspruch sein müssen. Aber ich will auch in die Zukunft blicken und zeigen, welch großes Potenzial wir haben.

Biophilia in der Stadt
Biophilia in der Stadt © kk

Aber es wird schwer möglich sein, mitten in der Stadt einen Wald entstehen zu lassen - oder?

Wir sollten wirklich jede Nische der Stadt begrünen, die wir begrünen können, und das sind unzählige Nischen. Wir können drei Dinge vom Wald lernen: Jede Nische ist besetzt, alles ist mit allem verbunden und alles hat eine Funktion.

Welche Funktion hat Natur in der Stadt?

Sie erfüllt eine wichtige Funktion für unsere Gesundheit! Eine aktuelle Studie zeigt, dass es in Europa acht Mal mehr asthmakranke Kinder in der Stadt als auf dem Land gibt. Psychische Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie sind in der Stadt signifikant häufiger als auf dem Land, auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen treten öfter auf und denken wir nur an die Belastung durch Schadstoffe des Verkehrs. Gleichzeitig wissen wir, dass Bäume und Sträucher genau diese Schadstoffe aus der Luft absorbieren. Zusätzlich bringen sie bioaktive Substanzen in die Stadt, die unser Immunsystem fördern.

Und wie soll nun jede Nische der Stadt genutzt werden?

Wir sollten Brachflächen nicht nur für Einkaufszentren nutzen, sondern auch neue urbane Waldinseln schaffen. Die Regenerationskräfte der Natur schlummern ja unter dem Asphalt und warten nur darauf, hervorzubrechen. Jeder Quadratmeter muss genutzt werden und wir sollten der Natur das, was wir ihr unten wegnehmen, oben wieder zurückgeben - sprich Dach- und Fassadenbegrünungen.

Aber ist das im Nachhinein überhaupt möglich?

Zukünftig muss es ganz normal werden, so zu bauen. Aber Dächer können auch im Nachhinein begrünt werden, Terrassen und Balkone sowieso und man kann auch vertikale Gärten anlegen. Die Fassade eines Hauses wird mit einem Gerüst ausgestattet. In dieses Gerüst kommt ein Nährboden, in dem Pflanzen wurzeln können. Ich habe außerdem die Vision, dass unsere Städte von einem grünen Netzwerk durchzogen werden sollen, die alle Stadtviertel miteinander verbinden. Dieses Netzwerk können wir mit städtischer Infrastruktur wie Fahrradwegen, Gehwegen und Straßenbahnen verbinden.

Können Sie Bestrebungen erkennen, dass so etwas auch umgesetzt wird?

Ich bin sehr optimistisch, weil das immer mehr Menschen wollen. Wir erkennen, dass das Stadtleben etwas Tolles ist, aber eben auch mit gesundheitlichen Risiken verbunden ist. Das fehlende Grün, diese knallharten Betonflächen können chronische Stresssituationen auslösen, das wissen wir aus neurobiologischen Studien. Grüne Flächen dagegen aktivieren neuronale Mechanismen, die uns in die Entspannung bringen. Städte wären einfach viel lebenswerter und viel gesünder, wenn sie grüner wären. Bis es so weit ist, sollte jeder die Stadtwälder bewusst nutzen und in die Natur eintauchen.