Lieber Jakob, am 12. Jänner 2014 hast du dein Profilbild auf WhatsApp geändert. Du hast mir geschrieben: „Was siehst du auf dem Bild?“ Ich habe geantwortet. „Das Lareintal.“ Dann hast du nichts mehr geschrieben. Drei Tage später hast du dir das Leben genommen.

Dieses Bild vom wuchtigen, wenig berührten Lareintal in Tirol ist Stefan Bohun seit diesem letzten Gespräch zu seinem Bruder nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Dort, in diesem Tal, hat die Familie viele wunderschöne Urlaube erlebt und sein Bruder Jakob einen Sehnsuchtsort gefunden. Dorthin ist der Filmemacher Stefan Bohun mit seinen drei Brüdern David, Johannes und Matthias gereist. Sie wandern durch einsame Gegenden, spielen Fußball, machen ein Lagerfeuer. Sie essen, trinken, baden, weinen. Und sie reden. Über sich, ihre Kindheit, ihren Bruder. Sie sprechen darüber, was sie nicht verstehen, von ihrer Wut, ihrer Trauer, ihrer Hilflosigkeit. Sie erzählen den anderen, was sie bereuen und was sie ihm noch gerne gesagt hätten.

„Die Kamera nimmt den Blick von Jakob ein“: Stefan Bohun
„Die Kamera nimmt den Blick von Jakob ein“: Stefan Bohun © bruderjakob-film.com

Zwei Jahre sind vergangen, seitdem ihr Bruder, ein Anästhesist und Familienvater, im portugiesischen Porto Suizid verübt hat. Er ist aus dem Leben gegangen, ohne sich von ihnen, seinen Brüdern, seinen einst Verbündeten („Wir waren immer eng“) zu verabschieden. „Dieser Tod hat auch an den Grundfesten unserer Familie gerüttelt“, erzählt Stefan Bohun. Am 14. September läuft sein Dokumentarfilm „Bruder Jakob, schläfst du noch?“ österreichweit in den Kinos an. Es ist ein Film, der die Reise von vier Bohun-Brüdern dokumentiert - ein ganz persönlicher Jakobsweg. Es ist aber auch eine Reise zu ihnen selbst, als Männer, Brüder, Familienmitglieder.

Und es ist ein Film, in dem die vier Erwachsenen endlich wieder einmal etwas gemeinsam machen. „Die drei Jüngeren haben sich sofort auf den Film eingelassen“, sagt Bohun. Nur Matthias wollte zunächst nicht. Es sei ihm zu privat gewesen, zu intim. „Dass er dann doch dabei war, macht mich unglaublich stolz.“ Das Projekt habe sie zusammengeschweißt.

Super-8-Filme von glücklichen Buben in kurzen Hosen, Gipfelstürmen und Autofahrten lösen sich mit Einstellungen aus dem Krankenhaus in Porto ab. Eine Frauenstimme erzählt auf Portugiesisch von Jakob. Sie gehört einer Frau, einer guten Kollegin, die sich unbedingt mit den Brüdern treffen wollte. „Ich habe in dieser Stimme auch einen vermeintlichen Abschiedsbrief von Jakob gesehen“, sagt der Filmemacher. Die Stimme erzählt von Jakobs Sehnsüchten, von Tirol und von den Brüdern. Und von all dem, wovon sie nichts wussten - dass er Psychopharmaka nahm. Jakob ist in dieser mutigen und auch lebensbejahenden Doku immer spürbar. „Er ist der große Abwesende, der Auslöser für den Film und dennoch nicht dabei. Für mich schwingt er mit und die Kamera (Klemens Hufnagl) nimmt Jakobs Blick ein. Und auch ein bisschen etwas von seinem feinen Humor steckt drinnen“, sagt Bohun.

Hat das Projekt bei der Verarbeitung geholfen? „Die Verarbeitung eines Suizids ist eine Lebensaufgabe. Aber man kann damit leben lernen, die Tatsache in sein Leben integrieren. Und er war einer von vier Brüdern, ich habe ja noch drei.“ Insofern ist der Film Abschied und Wiedersehen.

Drei Fragen an Verena Leutgeb

1. Suizid ist ein Tabuthema. Wie schätzen Sie den Film „Bruder Jakob, schläfst du noch?“ ein, der eine persönliche Geschichte erzählt?

VERENA LEUTGEB: Der Film zeigt, dass es gut und wichtig ist, offen über das Thema Suizid zu sprechen - insbesondere für Angehörige. Für Betroffene ist es wichtig zu wissen, dass sie nicht alleine sind, dass es guttun kann, ehrlich über Gefühle zu reden, dass - so schmerzhaft die Situation auch sein mag - Besserung möglich ist und dass es professionelle Hilfe gibt. Es gibt viele Vorurteile zu dem Thema und der Film räumt mit einigen davon auf.

Verena Leutgeb leitet das Kompetenzzentrum Go-On für Suizidprävention
Verena Leutgeb leitet das Kompetenzzentrum Go-On für Suizidprävention © Barbara Kluger

2. Was kann man tun, wenn man das Gefühl hat, jemand denkt über Suizid nach?

VERENA LEUTGEB: Man sollte da auf das Bauchgefühl achten und die Person unbedingt darauf ansprechen. Das kann ein letzter Strohhalm sein. Am besten sagen Sie ganz direkt: „Ich mache mir Sorgen um dich. Geht es dir gut? Denkst du darüber nach, dir das Leben zu nehmen?“ Wichtig ist aber, dass Sie nicht zu viel Verantwortung übernehmen, sondern gemeinsam professionelle Hilfe holen.

3. Gibt es so etwas wie Warnhinweise?

VERENA LEUTGEB: Häufig treten starke Stimmungsveränderungen und depressive Symptome auf. Jemand zieht sich total zurück, bricht seine Sozialkontakte ab, gibt seine Werte und Hobbys auf, zeigt risikofreudiges oder aggressives Verhalten, verschenkt persönliche Wertgegenstände. Eine Ankündigung eines Suizids sollte man immer ernst nehmen, auch Ankündigungen wie „Ist eh alles schon egal.“

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