Ist alles angeboren? Sind Kinder wohlhabender Eltern gescheiter? Hängt der Lernerfolg von der Schule ab? Oder von den Genen? Fragen, die polarisieren können - und es auch tun. Nicht nur, weil der Verweis auf genetische Abhängigkeiten in der Nazi-Zeit als Rechtfertigung für deren Rassenhygiene herhalten musste. Auch die populistische Vereinfachung wie jene These von Thilo Sarrazin, der vor einem intellektuellen Sinkflug der Gesellschaft durch weniger intelligente Einwanderer warnte, wirkt wie Öl im Feuer. „Wissenschaftlich unhaltbar“, wetterte nicht nur Elsbeth Stern, Verhaltensforscherin an der ETH Zürich.

Aber lässt sich die geistige Fähigkeit eines Menschen überhaupt rational beurteilen? Kann man ein derart vielschichtiges Phänomen wie die Intelligenz mit einer Zahl - dem Intelligenzquotienten - messen? Wohl nicht, denn die Denkmaschine Gehirn braucht andere, komplexere Beschreibungsmodelle.

Die Beurteilungsmethoden der Psychologie für Intelligenzleistungen unterscheiden folgerichtig zwischen akademischer, praktischer, operativer, sozialer und emotionaler Intelligenz. Ergänzt durch eine Einschätzung des Kreativitätspotenzials ergibt sich eine umfassende Analyse eines Gesamtprofils.

Intelligenzforscher wie Stern oder Robert Plomin spannen für ihre Analysen einen weiteren Rahmen von Zusammenhängen auf und fragen, in welcher Umgebung sich das genetische Potenzial eines heranwachsenden Menschen optimal entwickeln kann. Sie zielen damit neben individuellen Persönlichkeitsmerkmalen wie Konzentrationsfähigkeit, Zuverlässigkeit, Neugierde und Charakterstabilität auf externe Einflussfaktoren ab wie das soziale Umfeld (Eltern, Freunde), den Gesundheitszustand und den allgemeinen Lebensstil.

Was den profanen Bildungserfolg angeht, entlastet Plomin die Schulen: „Der Unterricht ist nur für höchstens zehn Prozent des Unterschieds zwischen guten und schlechten Schülern verantwortlich.“ Für die übrigen 90 Prozent zuständig sei demnach ein Mix aus vererbten Fähigkeiten und einer Umwelt, die ein Entwickeln und Entfalten dieses Potenzials ermöglicht (oder eben verhindert). Ersteres, der Erblichkeitsgrad, lässt sich nicht verformen.

Kinder kommen mit bestimmten genetischen Voraussetzungen zur Welt - „an denen man nichts ändern kann“ (Plomin). Viele Eltern würden sich diesbezüglich erst beim zweiten Kind von ihren Allmachtsfantasien verabschieden: „Beim ersten Kind denken sie noch, sie könnten das Schicksal ihres Kindes bestimmen“, sagt Plomin. Sobald jüngere Geschwister da sind, relativiere sich dieser Ehrgeiz. Man merke, wie unterschiedlich sich Kinder entwickeln, obwohl sie im selben familiären Biotop aufwachsen.

Welches Kind wie viel wovon abbekommt, bleibt in jeder Generation eine Lotterie. So können hochbegabte Eltern auch nur durchschnittlich intelligente Kinder haben, aber umgekehrt Höchstbegabte aus „einfachen Verhältnissen“ stammen. Humangenetiker Markus Hengstschläger unterstreicht zwar die Bedeutung des Genmaterials bei bestimmten Komponenten - warnt aber vor einem Überschätzen des Einflusses bei „dem, was den Menschen zum Menschen macht“. Diesbezüglich sei der Einfluss der Umwelt enorm.

Das fängt schon früh an. Sehr früh. „Schicksalsjahre des Lebens“ nennen Entwicklungspsychologen die Jahre unmittelbar nach der Geburt. In dieser Zeit bilden sich die meisten Nervenverbindungen. Zuwendung, Wörter und Gesten, Blicke und Berührungen, Lieder und Reime, die Eltern in Endlosschleifen mit ihrem Nachwuchs in Kontakt halten, prägen dessen Denkvermögen, weil derartige Interaktionen für das Kind tausendfach wiederholte Bildungserlebnisse sind. Es lernt, wie Kommunikation funktioniert. Ähnlich prägend wirken Lob und Anfeuerungen. Das Kind lernt die (Selbst-) Wirksamkeit von Motivation - kein schlechter Samen für die spätere Bildungsbiografie.

Tatsächlich spielt das soziale Umfeld des Elternhauses eine tragende Rolle, wenn es darum geht, das Potenzial der Kinder wirksam werden zu lassen. Die Wissenschaft nennt das „Heim-Lern-Umfeld“ - Stichwort „vererbte Bildung“. Eine These, die durch das Bildungsradar der Statistik Austria belegt wird. So deuten die Ergebnisse der aktuellen Erwachsenenbildungserhebung darauf hin, dass bei allgemein zunehmender formaler Bildung die Bildungskarrieren in Österreich oft weiterhin durch das Elternhaus vorgezeichnet sind. Die Kernaussage: Der höchste Bildungsabschluss, den die Eltern erreicht haben, ist auch bei den Kindern der häufigste.

Mit Intelligenz im strengen Wortsinn hat das nur bedingt bis gar nichts zu tun. Mit der Alltagsumgebung aber sehr viel. Schlechte Jobs, niedriges Einkommen, schlechte Wohngegend, schlechte Schulbildung: Es ist ein Kreislauf, der sich nur schwer durchbrechen lässt. Die Herkunft bestimmt noch immer die Zukunft. Denn umgekehrt weist die Statistik mehr überdurchschnittlich intelligente bis hochbegabte Kinder aus sozial besser situierten Familien auf. Auch das kein genetisch bedingtes Phänomen oder Zeichen eines Intelligenzbestienbooms in der Upper Class, sondern Spiegel „einer durch Bildung bewirkten Schichtung der Gesellschaft“, wie Plomin analysiert.

Dass es individuelle Unterschiede in der Intelligenz gibt, wird damit nicht bestritten. Sehr wohl aber die Aussagekraft von IQ-Werten. Denn Fachwissen und konkrete Kenntnisse können in einer sich rasant, bisweilen disruptiv verändernden Gesellschaft schnell veraltet sein. Die Fähigkeit für abstraktes Denkvermögen, ehrliche Empathie, eine räumliche Vorstellungskraft und verbale Kompetenz, um die Welt in ihren Regeln zu erfassen und wechselnde Aufgaben bewältigen zu können, bleiben aber immer en vogue.

Mehr zum Thema