Was tun, wenn das Kind hysterisch vor der Supermarktkasse brüllt, weil ein Kaufwunsch nicht in Erfüllung geht? Wie reagieren, wenn es sich bockig weigert, die Schuhe anzuziehen, die Haube aufzusetzen, das Leiberl umzuziehen? Was machen, wenn es sich vor einem wild weinend auf den Boden schmeißt, weil es die Jausenbox selbst aufmachen wollte, sie ihm aber bereits geöffnet überreicht wurde?

Tobsuchtsanfälle und Trotzattacken des Nachwuchses gehören zum ultimativen Stresstest für Eltern. Das gehört dazu, beruhigen jene, die diese Phasen bereits hinter sich haben. Gott sei Dank ist es bei anderen gleich, atmen gerade Betroffene erleichtert auf. Ruhig bleiben, rät einschlägige Erziehungsliteratur. Das Trotzen sei die „Unabhängigkeitserklärung“ der Kinder, heißt es dort. Und dennoch: In jüngster Vergangenheit scheint da etwas in Schieflage geraten zu sein. Die Zahl verhaltensauffälliger Kinder nimmt zu. Und das rasant.

Kinder als Alltagsdespoten?

„Die Kinder von heute weisen gravierende emotionale und soziale Entwicklungsrückstände auf, bis zu 60 Prozent haben im Volksschulalter einen psychischen Reifegrad von maximal Zweijährigen, agieren nur lustorientiert, aber nicht leistungsbereit“, analysiert der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff. Kinder wollen und können sich nicht mehr anpassen und sind nicht mehr aufmerksam, sondern erwarten, dass sich das Umfeld auf sie einstellt. Diese Respektlosigkeit, der man begegnet, gründe jedoch vielfach nicht in fehlender Erziehung, sondern in fehlender Entwicklung, meint Winterhoff. Solange das kleinkindliche Weltbild „Ich kann alles steuern und bestimmen“ vorherrsche und das Gegenüber nicht als solches erkannt werde, fehle eigentlich die Basis für schulisches Lernen, sagt der Psychiater, der seinen Büchern verkaufsfördernde Titel wie „Warum unsere Kinder Tyrannen sind“, „Tyrannen müssen nicht sein“ oder „Persönlichkeiten statt Tyrannen“ gegeben hat.
Die Kinder als Alltagsdespoten - wie konnte es so weit kommen? Winterhoff macht einen permanenten Überforderungsmodus in der Erwachsenenwelt, der auf den Nachwuchs übertragen wird, dafür verantwortlich. Schnelllebigkeit des Alltags, Unsicherheit im Berufsalltag, permanenter Entscheidungsdruck, mediale Dauerversorgung mit Krisennachrichten - die Katastrophen werden zur Normalität.

 Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff
Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff © (c) Sabine Hoffmann/ Kleine Zeitung

Nein sagen lernen

„Wir leben in einer Zeit, in der es keine positive Perspektive gibt. Da ist die Gefahr groß, dass ich mir das, was mir fehlt, über das Kind hole: Sein Glück ist auch mein Glück“, verweist Winterhoff auf mehrere Formen seiner Meinung nach verquerer Beziehungsmuster: So werden Kinder entweder als Partner gesehen oder die Erwachsenen, denen Anerkennung und Sicherheit fehlen, kompensieren es nach dem Motto: „Wenn mich schon draußen niemand mehr liebt, dann wenigstens mein Kind.“ Oder sie nehmen das Kind nicht als Kind und Gegenüber wahr, sondern leben mit ihm in einer Symbiose, verschmelzen in falsch verstandener Fürsorglichkeit mit ihm. „Das Kind ist quasi ein Teil von ihnen“, sagt Winterhoff. Die Folgen: Eltern können in derartigen Beziehungskonstellationen nicht mehr Nein sagen. Nicht sie geben dem Kind Orientierung, sondern sie lassen sich vom Kind orientieren.
Die Kinder nützen diese Grenzenlosigkeit aus. „Sie sind nicht beziehungsfähig, haben aber ein hohes Anspruchs- und Versorgungsdenken“, sagt Winterhoff. Gleichzeitig verkümmere aber die Fähigkeit, es als Erfüllung zu empfinden, etwas zu erleben. „Es droht eine Generation, die ein permanentes ,Bitte nicht stören'-Schild auf der Stirn trägt“, warnt Winterhoff. Ein düsteres Zukunftsbild. Was aber kann man dagegen tun?

Es brauche in sich ruhende Eltern. Nur so sei eine funktionierende Beziehung, in der sich die Psyche des Kindes entwickeln kann, möglich. „Kinder wieder Kind sein lassen“, rät Winterhoff zu Empathie und einem grollbefreiten Umgang mit kindlichem Fehlverhalten. Damit die Kinder nicht Opfer unserer Zeit werden.