Immer öfter trügt der Schein: Wer körperlich anwesend ist, muss nicht wirklich nah sein. In der Psychologie wird dieses Phänomen als Dissoziation bezeichnet. Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung driften ab und sind ganz woanders, fühlen sich als jemand Anderes. Alltägliche Dissoziationen sind vielleicht weniger krass: Wir sehen ein Pärchen eng beieinander sitzen und verknüpfen damit Nähe. Irrtum! In Wahrheit sind die beiden durch Welten getrennt – „dissoziiert“ – und jeder in sein Smartphone vertieft. Und jeder ist real abwesenden Menschen verbundener und näher.

Ein Beispiel: Birgit aus Österreich chattete auf Mauritius mit John in Kanada und gab ihrem Mann Holger gegenüber vor, ihre romantischen Urlaubsfotos für ein Posting auf Social Media zu bearbeiten. In Wahrheit textete sie an den Kanadier über ihre Sehnsucht nach Verschmelzung. John und Birgit kannten sich seit kurzem virtuell und flirteten im Internet-Chat zeitgleich mit Birgits Candlelightdinner mit ihrem Mann. Und Holger warf Birgit vor, „nicht bei ihm und weit weg“ zu sein.
Wir leben im Zeitalter eines paradoxen Vermeidungsverhaltens in Beziehungen, was ein Widerspruch in sich ist. Denn Beziehung bedeutet Nähe. Gerade das ist jedoch der meist gefürchtete und zugleich meist herbeigesehnte Zustand.

Freiheit und Unabhängigkeit

Bedeutsam ist Männern wie Frauen von heute ihre Selbstbestimmung als schier grenzenlose Freiheit und Unabhängigkeit. Die Autonomie als Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist ein oberster Wert der Gesellschaft mit Gottheiten, die nicht vom Olymp heruntersteigen: Perfektionismus, Harmonie und grenzenlose Belastbarkeit. Drei falsche Götzen, denn Konflikte sind das Salz in der Suppe. Und Krisen sind laut dem medizinischen Anthropologen Viktor von Weizsäcker kreative Zeiten des Umschwungs und der Veränderung. Konstruktive Reibung macht Nähe und Anziehung dauerhaft möglich. Harmonie und Glück sind das Backpulver des Beziehungsglücks, nicht die Teigmasse. Denn die basale Zutat ist der Mut zur Nähe. Tragfähige und ausbaufähige Beziehungen erfordern Willenskraft, Flexibilität und Empathie. In Summe ergibt sich daraus eine andauernde beherzte Beziehungsarbeit: Nur dann kann Nähe haltbar und beständig sein.

Aus Angst vor Nähe werden die persönlichen Belange immer häufiger nicht mit dem Partner und der Familie geteilt. Besondere Ereignisse wie Beförderung, Jobwechsel, Krankheit, Urlaub, aber auch der Beziehungsstatus oder Gefühle wie Aufregung, Freude, Begeisterung und Glück werden eher in Sozialen Netzwerken veröffentlicht als den anwesenden Mitmenschen soviel Nähe – und damit Einflussnahme und die Möglichkeit zu Machtmissbrauch – zu gewähren.

Angelika und Heinz führen eine vierzig Jahre währende Ehe: Drei erwachsene Kinder, ein erfolgreicher Gründerbetrieb und zufriedene Mitarbeiter. Krisen wurden gemeinsam bewältigt. Berührungen und Sex wurden allerdings vernachlässigt. So wäre es im bevorstehenden Ruhestand weitergegangen, hätte Heinz nicht das Internet für sich entdeckt. Eine ÜbersetzungsApp machte möglich, dass der bodenständige Mann auf einmal mit der globalen Weiblichkeit chattete.

Verlust von Nähe

In einer nach ihr Betreiben aufgesuchten Paartherapie beklagte die verzweifelte Frau den Verlust von Nähe. Heinz sei nur noch körperlich da und virtuell seit Monaten mit Frauen in aller Welt, seit einiger Zeit mit einer dreißigjährigen Frau aus Nigeria verbunden, die er real nie getroffen habe. Und zwar zeit- und ortsunabhängig immer und überall, von morgens bis abends, bevorzugt auf dem WC, damit Angelika nicht stänkern konnte. Schon jetzt fließe Geld auf Joys Konto, um ihr beim Lebensunterhalt zu helfen. Heinz war zerrissen zwischen der Afrikanerin Joy und seiner Ehefrau. Erstaunlicher Weise fühlte sich der Sechzigjährige gleich an die ferne junge Frau in Nigeria gebunden wie an seine Gattin. Die Eheleute gingen jeden Abend gemeinsam schlafen, aber zwischen ihnen lagen nicht die realen paar Zentimeter, sondern unüberwindbare Barrieren. Heinz sei in Afrika, auch wenn er ihr körperlich nah sei, sagte Angelika.

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Der Entzug von Nähe ist mithin die Höchststrafe in einer Partnerschaft. In der Paartherapie wurde klar, dass es sich um Heinz‘ Versuch handelte, sich abzugrenzen und seine Selbstbestimmung wiederzugewinnen. Joy diente ihm als virtuelle Waffe seiner Frau gegenüber, von der er sich seit langer Zeit nicht wahrgenommen geschweige denn wertgeschätzt fühlte. Nach der Klärung der Verhältnisse trennten sich Angelika und Heinz im Guten und auf Zeit. Darauf konnte eine Phase der Neuorientierung und Annäherung erfolgen. Die beiden mussten lernen, einander wieder zu berühren und somit das Bindungshormon Oxytocin freizusetzen. Denn Berührung ist nicht nur die Kuchenglasur des Glücks, sondern das süße Geheimnis jeder glücklichen Beziehung und der Boden wirklicher erfüllender Nähe.