Sie ist an Armen und Beinen an das Bett gefesselt Sie leidet, sie bäumt sich mit dem ganzen Körper dagegen auf, Pflegepersonal umgibt sie: Mit dieser Rahmenhandlung in trister, kalter Umgebung einer geschlossenen Anstalt beginnt, noch bevor die Musik anhebt, „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti bei den Tiroler Festspielen in Erl. Dann hört die namenlose Patientin im Radio die Oper, steigert sich immer mehr hinein und wird zu einer draufgängerischen Lucia. Und für sie verschwimmen immer mehr Fiktion und Realität. Das von einem Fadenvorhang umgebene Bett selbst bleibt bis zum Finale omnipräsent und obwohl Lucia schon gestorben ist, kniet dort die Patientin mit dem Radio in den Armen konvulsivisch zuckend.

Diese eigenwillige Konzeption, die auch auf den Aufenthalt des Komponisten in einer Nervenheilanstalt Bezug nimmt, hat Louisa Proske nahe an der Gegenwart über dieses Meisterwerk des Belcanto darübergestülpt, nicht besonders erhellend und eigentlich entbehrlich. Auch jenes junge Mädchen, das von Vorfahren des Edgardo ermordet wurde, entsteigt immer wieder dem Brunnen und wandelt wie ein Geist durch die Szene. In einem meist dunkel-schaurigen, ziemlich leeren Ambiente (Bühne: Darko Petrovic) wird in gegenwärtigen Kostümen (Kaye Voyce) sehr körperbetont, gewalttätig und lebendig agiert. Der Chor fungiert meist als Zuschauer im Rund eines Logentheaters, an die Diven erinnernd, die dieses Meisterwerk gesungen haben.

Was diese Produktion in einen ganz besonderen Rang erhebt, ist das Gesangsensemble: Allen voran meistert Sara Blanch als flexible Lucia fast immer im weißen Nachthemd mühelos alle Klippen des immens schweren Koloraturgesangs und brilliert nicht nur in der Wahnsinnsarie. Bei dieser muss sie teils über die Bühne flitzen und wird noch dazu von einer Helferin im Gesicht gereinigt, verbunden und umgezogen. Jede Höhe und jede Nuance sitzen und sie weiß auch zarte, innige Piani auszuformen.

Sara Blanch als Lucia brillierte nicht nur in der Wahnsinnsarie
Sara Blanch als Lucia brillierte nicht nur in der Wahnsinnsarie © Xiomara Bender

Kang Wang als ihr Geliebter Edgardo verfügt über einen dunkel gefärbten, kraftvollen, höhensicheren Tenor. Lodovico Filippo Ravizza ist der stimmkräftige und extrem gewalttätige Bruder Enrico von Lucia. Adolfo Corrado ist ein edler Priester Raimondo. Die kleineren Partien und der hauseigene Chor singen überwiegend tadellos.  Chefdirigent Asher Fisch musste wegen einer Verletzung kurzfristig absagen. So wird der wunderbare Reichtum der lyrischen Musik vom Orchester der Tiroler Festspiele Erl unter dem Einspringer präzisen und auf Sicherheit bedachten Sesto Quatrini mit vielen dynamischen Ausdrucksmöglichkeiten sehr klangschön präsentiert. Allerdings hätte man sich fallweise mehr Emotionen und Spannungen gewünscht. Großer Jubel! ●●●●○

Wiederholungen am 2. und 4. Jänner (ausverkauft).
www.tiroler-festspiele.at