Es beginnt damit, dass Jatgeir buchstäblich nach Strich und Faden über den Tisch gezogen wird; eigentlich ist es eine Lächerlichkeit, doch für ihn, den angealterten, einsamen Mann, ist es eine Erniedrigung und einmal mehr ein Erlebnis, das ihm zeigt, dass er aus der Zeit gefallen ist und keinen Platz mehr hat in dieser Welt. Jatgeir also schippert mit seinem Boot von der Einsamkeit der norwegischen Fjordlandschaft in die Stadt, um dort einiges für seinen kargen Alltag einzukaufen. Vor allem braucht er schwarzen Nähgarn und Nähnadel, um Knöpfe anzunähen. In einem Geschäft bekommt er das auch – allerdings zu einem unverschämten Preis. Erbost verlässt er die Stadt, legt an einem weniger belebten und verdorbenen Ort an, kauft dort Garn und Nadel – und wird erneut betrogen.

Mit diesen absurd-komischen Szenen beginnt der neue Roman „Vaim“ des norwegischen Schriftstellers Jon Fosse, Literaturnobelpreisträger 2023. Geehrt und ausgezeichnet wurde er „für seine innovativen Stücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme geben“, hieß es damals in der Begründung der Schwedischen Akademie. Das Unsagbare und die flächendeckende Orientierungslosigkeit sind auch zentrale Themen in diesem Roman, der den ersten Teil einer geplanten Trilogie darstellt. „Vaim“, der Name des fiktiven Heimatortes der Hauptfigur, ist eine soghafte Meditation über Sinn und vor allem Unsinn menschlichen Daseins. Wieder schreibt Fosse ohne Punkt, dennoch ist sein Stil nie atemlos, sondern – ganz im Gegenteil – ein in sich ruhender rhythmischer Sprachfluss. Inhaltlich geht es um schweigende, einsame Männer, karge Landschaften und rätselhafte Beziehungsgeflechte. Lösungen bietet Fosse nie an, auch diesmal nicht.

Männer mögen im Mittelpunkt des Geschehens stehen, doch eine Frau – auch sie ein personifiziertes Enigma – gibt den Ton an. Das Boot von Jatgeir trägt den Namen Eline, das war (und ist) seine heimliche Jugendliebe. Sie war bereits in jungen Jahren weggezogen von Vaim, seither hatte Jatgeir nichts mehr gehört von ihr. Doch plötzlich – an dem Ort, an dem er zum zweiten Mal betrogen wurde – steht sie vor ihm, betritt sein Boot und sagt: „Tja, jetzt steht Eline auf Eline.“

Zwei weitere Männer tauchen auf, und wäre Jon Fosse ein weniger origineller Schriftsteller, würde jetzt wohl eine klassische Dreiecks-Geschichte folgen. Stattdessen entwickelt sich die Handlung immer mehr in Richtung Traumstück, in dem die Wahrnehmungsebenen verschwimmen. Ist es Wirklichkeit, was Jatgeir im Zuge seiner Bootsfahrt erlebt, möchte Eline tatsächlich zurück nach Vaim und möglicherweise dort mit ihm leben – oder befindet sich dieser Mann in einem Einsamkeitsdelirium? Egal, wie stets bei großer Literatur. Nicht was ist zählt, sondern wie es beschrieben wird. Mit drakonischem Minimalismus erzeugt Jon Fosse auch in seinem neuen Roman maximale Melancholie, durchzogen mit zartbitterem Humor. Nobelpreiswürdig!

Jon Fosse. Vaim. Rowohlt, 156 Seiten, 24,50 Euro.