Die Coronakrise hat das Denken nicht verändert, sondern es ans Tageslicht gebracht. Der gegen das Alter gerichtete Faschismus, der Rassismus gegen Ausländer, der Traum vom Überwachungsstaat und einer starken politischen Hand, all das, was die Krise hervorgespült hat, sind keine Denkfiguren, die erst unter dem Eindruck der Pandemie entstanden wären. Es war alles längst da. Wenn davon gesprochen wird, dass es „eh nur die Alten betrifft“, wenn Hygiene und Organisationsfähigkeit in anderen Ländern in Zweifel gezogen werden, wenn Denunziantentum unter dem Deckmantel der Vernunft salonfähig wird: Dann zeigt sich, dass die „neue Normalität“ nichts anderes als die „alte Normalität“ ist. Oder wie im Konzept des steirischen herbst 2020 steht: „Es ist diese ,Normalität‘, die das Virus hervorgebracht hat – und die wir fürchten sollten.“
Das Festival 2020 wurde anlassbezogen programmatisch und formal radikal umgebaut, wird sich stark in den digitalen sowie medialen Raum verlagern und den Anschein einer TV-Station geben. „Paranoia TV“ heißt die herbst-Ausgabe 2020, die Intendantin EkaterinaDegot und ihr Team im Lauf des Frühjahrs neu konzipiert haben. Die herbst-Chefin wollte bei der dritten von ihr verantworteten Festivalausgabe keinesfalls eine Reduktion des Programms. „Wir hatten ja ganz andere Pläne wie eine große Ausstellung in der Neuen Galerie. Drei Viertel des Programms haben wir neu gemacht“, sagt Degot und fügt lächelnd hinzu: „Ich empfinde das als eine angenehme Herausforderung.“
Das neue Konzept sei im Grunde sehr einfach, so Degot. „Wir bekommen erzählt, dass wir Angst haben sollen“, erklärt die Intendantin das Thema „Paranoia“, das als Metapher für all diese Ängste fungiere. Das imaginierte Szenario bei vielen Arbeiten für den herbst 2020 sei, dass der normale Alltag nicht wiederhergestellt sei: Man könne nicht reisen, keine Freunde treffen usw. Für das unter eine solche Hypothese gestellte Programm hat Degot etwa 40 Künstlerinnen und Künstler eingeladen, darunter Hito Steyerl, Vadim Fiskin, Gelitin, Anna Witt, Xiu Xiu und Milo Rau. Die Details dazu werden im August veröffentlicht, aber man bleibt der Linie treu, den herbst politisch zu denken. Degot: „Alles ist politisch und wir möchten zeigen, was dieser Satz bedeutet.“
Das Konzept Paranoia TV
Paranoia TV geht auf unterschiedlichen Plattformen auf Sendung. Die herbst-Website wird zum gleichnamigen Kanal, wo Kunstschaffende Talkshows, Serien, Live-Disskussionen und Nachrichtensendungen gestalten. Ö 1 ist Kooperationspartner, der via Radioprogramm und Podcast die Inhalte transportiert. Darüber hinaus gehen die Formate aus dem virtuellen in den realen Raum über: mit Interventionen und Performances in Graz und der Steiermark. So wird auch ein Supermarkt zum Schauplatz von Kunst. Das Besucherzentrum ist als „TV-Station“ geplant. Mit dem Partner Forum Stadtpark Graz veranstaltet der herbst eine TV-Paranoia-Konferenz (u. a. mit der feministischen Denkerin Silvia Federici und Schriftsteller Ilija Trojanow), mit dem Grazer Literaturhaus startet man eine dreijährige Zusammenarbeit. Bei der ersten Ausgabe dieses Literaturfestes wartet man mit Namen wie Judith Schalansky, Robert Pfaller und Heinz Bude auf. Degot: „Da greifen wir eine lange literarische Tradition des herbst auf.“
Vom ursprünglich geplanten Programm hofft man, 2021 einige Projekte nachzuholen. Aber nur wenn die Vorhaben bis 2021 thematisch Bestand haben. Schließlich sei man ein Festival, das sich mit den aktuellsten Zeitläufen auseinandersetze. Was heuer bewiesen wird.
Weblink: www.paranoia-tv.com