Das erste Leben von Claus-Peter Reisch hat viel mit Wasser und menschlichen Hinterlassenschaften zu tun. Aber auch mit Glück, wenn er seinen Job richtig gemacht hat. Das zweite irgendwie auch. Aber das konnte der Oberbayer nicht ahnen, als er damals seine Sanitärfirma in Landsberg am Lech südlich von München führte. Er, der Automechaniker gelernt hatte und erfolgreicher Unternehmer wurde.

Doch dann wendete sich im Frühjahr 2015 das Blatt auf einem Segeltörn im Mittelmeer von Sardinien nach Griechenland. Reisch suchte nach einer neuen Idee im Leben. „Ich habe in den kalabrischen Häfen diese abgewrackten Fischerboote gesehen, die ihre letzte Fahrt nach Europa mit Flüchtlingen unternommen haben“, erzählt der 58-Jährige. „Ich sah die Wasserflaschen, die Rettungswesten, die Kleidungsstücke, das Kinderspielzeug und dachte: Oh Gott, mit den Schiffen sind die über das Meer gefahren.“ Er hätte Todesangst gehabt, auf solch ein Schinakel zu steigen. Plötzlich stellte er sich die Frage, wie er selbst reagieren würde, wenn er auf ein überfülltes Schiff träfe. Mit seiner Rettungsinsel für sechs Personen wäre er überfordert gewesen. Auf der Rückfahrt sah er erneut die Bootsreste und so hatte er die Idee, bei einer Rettungsmission anzuheuern. „Ich habe meine Firma 2008 verkauft und hatte ja Zeit.“

Erste Mission 2017

Im April 2017 startete er seine erste Mission. Und was er erlebte, erschütterte ihn. „Ich habe gesehen, wie die libysche Küstenwache die Außenbordmotoren abmontiert, bevor wir die Boote zerstören konnten. Sie scheuchten uns von den Schiffen, bevor wir das Benzin ausschütten konnten.“ Üblicherweise werden Schlauchboote von den Helfern nach der Rettung aufgeschlitzt und Holzboote verbrannt, damit sie nicht noch einmal verwendet werden können von Schleppern, erzählt Reisch. Doch die Libyer haben die Motoren mitgenommen. „Die finden sie am nächsten Boot wieder“, weiß er aus eigener Anschauung. „Die libysche Küstenwache und die Schlepper stecken nach meinen Erfahrungen unter einer Decke.“

Seine Erlebnisse motivierten ihn. Reisch wurde Kapitän auf der Lifeline. Und geriet mit seinem Schiff mitten in den Streit um die europäische Flüchtlingspolitik. Am 21. Juni 2018 sichtete seine Mannschaft zwei seeuntüchtige Boote in internationalen Gewässern, meldete der Notleitstelle in Rom die Seenot und nahm 235 Menschen an Bord. Italiens Innenminister Matteo Salvini bezeichnete den Einsatz als illegal, weil Reisch die Anweisungen der Leitstelle ignorierte, und verweigerte die Einfahrt in einen Hafen.

Führerschein auf dem Starnberger See

Der Kapitän, der seinen Bootsführerschein vor 16 Jahren auf dem Starnberger See gemacht hat, führt sein Schiff in die Gewässer vor Malta. Eine Woche Odyssee für fast 250 Menschen, auf einem Schiff, das nur für 50 ausgelegt ist. Denn die Regierung in Valletta will erst eine Verteilgarantie von den europäischen Partnern. Nicht nur Italien verweigert sich, auch der deutsche Innenminister Horst Seehofer will Härte demonstrieren und will keine Flüchtlinge übernehmen. Ausgerechnet Seehofer von der bayerischen CSU, die Reisch früher gewählt hat, auch wenn er sich nicht als politischen Menschen bezeichnet.

Doch schließlich dürfen alle von Bord. „Es gab einen gewissen Hype, als wir in Malta eingelaufen sind. Da haben Fernsehen und Presse gewartet“, erzählt Reisch. Doch für den Kapitän ist die Episode noch lange nicht beendet. „Ich bin der Einzige, der deswegen vor Gericht steht.“ Malta wirft ihm vor, ein nicht ordnungsgemäß registriertes Schiff gesteuert zu haben. Richter Joseph Mifsud verurteilt ihn zu 10.000 Euro Strafe.
Der Prozess gerät zur Posse. „Für mich ist es ein politisches Verfahren“, sagt Reisch. Er fragt sich, was man damit wirklich bezwecken wollte. „Mich mit 10.000 Euro abstrafen, die ich an den Erzbischof von Malta spenden soll, der das Geld für seine Flüchtlingsarbeit einsetzt. Ich habe am Tag nach der Urteilsverkündung den Erzbischof auf dem Friedhof getroffen. Wir haben eine Gedenktafel für 200 ums Leben gekommene Flüchtlinge enthüllt“, sagt der Landsberger und gibt dann lachend preis: „Er mich am Arm genommen und gesagt: ,Wenn du 10.000 Euro brauchst, sag Bescheid. Ich bekomme es ja eh wieder.‘ Daran kann man erkennen, was der Erzbischof von diesem Urteil hält. Und er ist eine Einflussgröße auf Malta.“

Schon elf Mal auf Malta für die Verhandlung

Reisch sei elf Mal auf der Insel gewesen und habe ein nur einziges Mal vor Gericht eine Aussage gemacht. An diesem ersten Dienstag im Jänner ist der zwölfte Prozesstag angesetzt. Die kürzeste Verhandlung dauerte dreieinhalb Minuten. „Dafür habe ich drei Tage investiert.“ Zusammengerechnet sei er einmal um den Globus geflogen. „Das ist paradox, was man für einen Aufwand treibt, um mich zu 10.000 Euro Geldstrafe zu verurteilen.“ Inzwischen befindet er sich in Revision. „Das Schiff ist seit Juni 2018 beschlagnahmt. Das sind eineinhalb Jahre, in denen nichts vorangegangen ist.“

Weitermachen will er in jedem Fall, selbst wenn er schon eine Morddrohung bekommen hat. Aber die Anfeindungen finden fast nur in den sozialen Medien statt. „Ich bin kein Held“, sagt Reisch. „Ich tue, was zu tun ist. Man kann die Menschen doch nicht sterben lassen.“ Er tourt mit Filmdoku und Buch durchs Land. Auch weil er heute erst die Zusammenhänge versteht, die zur Flucht führen. „Ich bin vor 30 Jahren mit dem Motorrad von Tunis nach Ruanda gefahren und habe Dinge gesehen, von denen ich heute weiß, dass sie eine Fluchtursache sind.“

Sein Verein hält Kontakt zu den Flüchtlingen. „Sie sind nach Portugal und Irland gekommen und schreiben uns, dass sie durchwegs zufrieden sind“, erzählt Reisch. „Sie sind so froh, dass wir sie nicht in Libyen rausgegeben haben.“ Sie hätten ein neues Leben begonnen und hofften nun, dass sie alles meistern. „Das hat sich doch dann gelohnt“, resümiert Reisch.