In der ARD wurden zur Prime Time die sechs Kandidaten und ihre Songs vorgestellt, um den idealen Beitrag für das Song-Contest-Finale in Portugal zu finden. Doch dieser Satz von Moderator Elton sagte alles über die Live-Sendung „Unser Lied für Lissabon“ und deren provinziellen Show-Charakter: "Das heißt, Du hast sogar Erfahrung", sagte er etwa zu Jurorin Margaret Berger, die 2013 in Malmö für Norwegen einen vierten Platz ersungen hatte. Hallo?!? Man darf eigentlich darf davon ausgehen, dass die 20 Mitglieder der international besetzten Expertenjury über Kenntnis und Erfahrung in der Popbranche und insbesonders beim ESC verfügen. Sonst müsste man sie ja nicht neben dem Televoting und einem 100-köpfigen Forum aus arrivierten ESC-Fans, für die das Wettsingen wie ein Weihnachtsfest Jahr für Jahr im Spätfrühjahr stattfindet, bei der Entscheidung einsetzen.

Gänsehaut konnte nur Ryk (Rick Jurthe, 28) aus Hannover mit der selbstkomponierten Nummer "You and I" erzeugen. Großes Gefühlskino! Die Inszenierung (der Flüge und die Tänzerin) erinnerte freilich an ein russisches ESC-Tableau aus den 90er-Jahren, ohnehin wunderte man sich über die Kostüme und Bühnensettings dieses Abends, wollte die ARD doch eine "radikale" Veränderung und schon einen Vorgeschmack auf den Auftritt in Lissabon bieten. Der Beitrag von Ivy Quainoo (25) aus Berlin hätte auch Conchita gut gestanden: "House on Fire" war toll gesungen, solide gebaut und drei Minuten schön. Das reichte allerdings nicht.

Unspannender und ohne jegliches Herzklopfen konnte man die Entscheidung aus drei Wertungspannels jedenfalls nicht auf den Bildschirm bringen. Man vergaß zuletzt sogar, die Tabelle einzublenden. Elton und Linda Zervakis als Moderationsduo waren eine komplette Fehlentscheidung. Barbara Schöneberger wurde schmerzlich vermisst. "Linda Zervakis und Elton frotzeln über Showbühne", konstatierten deutsche Medien wie "Die Welt" gleich hernach online. Einmal mehr eine Fehlentscheidung von NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber, der die Flops der letzten Jahre stets weglächeln konnte.

Nach Lissabon fährt Michael Schulte mit seiner Ballade für den verstorbenen Vater: „You Let Me Walk Alone“, aus der Feder von ihm selbst, Thomas Stengaard, Nisse Ingwersen und Nina Müller. Eine deutliche Kür, daran gibt es nichts zu rütteln (er hängte auch beim Televoting die lauwarm bzw. dünn gesungene Après-Ski-"Mundart"-Nummer des VoXXclub ab). Der 27-jährige Schulte kann von der Anmutung her als deutscher Ed Sheeran bezeichnet werden. Unbekannt ist er nicht: Sein YouTube-Kanal hat mehr als 50 Millionen Views und knapp 200.000 Abonnenten. Ein Großteil seiner mehr als 1,2 Millionen Spotify-Streamabrufe pro Monat kommt aus Schweden, Norwegen, England und den USA. Inzwischen hat der Singer/Songwriter sieben Alben und EPs veröffentlicht. Aufgewachsen ist er in Dollerup bei Flensburg, heute wohnt er in Buxtehude im Landkreis Stade. 

Die Prognose für Lissabon lautet dennoch: eine Platzierung im hinteren Drittel. Da fehlen (zumindest NOCH) die Magie, der Kick, das Besondere! Ein paar mehr Punkte als für Levina ("Perfect Life") im Vorjahr dürften es schon werden ...