Wo beginnen? Bei welchem Blickwinkel, bei welcher Erzählung? Beim Chaos – oder bei der Idylle? Beim Matsch – oder beim Mythos? Bei den Menschenmassen – oder den Drogenmassen? Damit, dass Woodstock bis heute der Gral der Hippie-Bewegung ist – oder deren Grab? Damit, dass dieses bis heute ebenso legendäre wie verklärte Festival ein rauschendes Statement der Jugendkultur war – oder ein Paradebeispiel für Kommerzialisierung? Jedem sein Woodstock, auch 50 Jahre danach.

Jede Erzählung beginnt natürlich damit, dass das Woodstock-Festival nicht im Ort Woodstock stattgefunden hat, sondern im rund 70 Kilometer entfernten White Lake nahe der Kleinstadt Bethel auf einem riesigen Weidefeld des Milchbauern Max Yasgur, der dafür einen schönen Patzen Pacht erhielt. Ebendort haben die beiden jungen Festivalpromoter und Musikproduzenten Michael Lang und Artie Kornfeld gemeinsam mit zwei New Yorker Investoren „3 Days of Peace & Music“ veranstaltet. Doch Lang & Co. wollten mit dem Hippie-Happening nicht nur dem Hedonismus eine Bühne geben, sondern in erster Linie ihr Tonstudio finanzieren. Das Festival selbst wurde dann zwar ein infrastruktureller Super-GAU, doch – auch so ein Mythos – kein finanzielles Fiasko. Denn durch den Verkauf der Filmrechte flossen später Millionen in die Taschen der Veranstalter.



Der Zeitrahmen: Die eruptiven 60er-Jahre neigten sich dem Ende zu; doch der Boden, auf den der Woodstock-Samen fiel, war noch immer fruchtbar. Die USA waren kontaminiert vom Generationenkonflikt, der Vietnam-Krieg tobte nach wie vor, Richard Nixon wurde zum Präsidenten gewählt. Doch über die Morgenröte der Protestbewegungen hatten sich schon schwarze Wolken geschoben. Die „Counterculture“ war nicht nur auf dem Weg in den Mainstream, sondern auch in sich selbst zerstritten. Hier die friedfertigen, meist massiv sedierten Hippies, dort die politisch aggressiven und wachen „Yippies“, die mit Friede, Freude, Eierkuchen und Batikleiberln wenig am Hut hatten. Diese Revolution hat nicht nur ihre eigenen Kinder gefressen, die Kinder haben sich auch untereinander nicht gut vertragen. Bevor es also in den Abgrund der Konsensgesellschaft ging, musste ein Mythos her, der – im Gegensatz zur Bewegung selbst – unsterblich war.



Was später als „Lourdes des gegenkulturellen Glaubens“ hochgejazzt wurde, war in Wahrheit eine Abfolge organisatorischer Katastrophen und Fahrlässigkeiten. Die Eckdaten füllen ganze Bücher: Geschätzte 500.000 Menschen strömten an diesen Augusttagen auf das Yasgur-Feld – ein Vielfaches der erwarteten Besucher. Es fehlte an allem: Essen, Wasser, Toiletten, Sicherheitskräften. Heftige Regenfälle verwandelten das Areal in ein Schlammfeld. Dennoch – und das lässt sich nicht wegdiskutieren – war es eine erstaunlich friedliche Veranstaltung mit nur drei Todesopfern (Traktorunfall, Heroinüberdosis, Blinddarmdurchbruch).

Dass die Darbietungen der 32 Bands und Solokünstler bahnbrechend/wegweisend waren, zählt ebenfalls zum Mythos-Inventar: Janis Joplin etwa lieferte eine katastrophale Performance ab, The Who grantelten sich lustlos durch ihr Set, nur Joe Cocker, Santana und Sly and the Family Stone überzeugten durch ihre energetischen Auftritte. Und dass Jimi Hendrix sich mit einer neuen Begleitband abmühte, wurde durch seine kakophonische Version der US-Hymne „Star-Spangled Banner“ wettgemacht. Damit war der Woodstock-Mythos auf immer und ewig auch in Musik gemeißelt.

Doch das „Love & Peace“-Festival und die Dauerhaftigkeit der Hippie-Coolness wurden durch zwei Ereignisse auf brutalste Weise konterkariert. Eine Woche vor Woodstock, in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1969, metzelten der Sektenguru und Psychopath Charles Manson und seine „Family“ die schwangere Schauspielerin Sharon Tate und deren Freunde auf bestialische Weise nieder. Und beim Altamont Free Concert, einer Art Westküsten-Woodstock, wurde am 6. Dezember 1969 der 18-jährige Meredith Hunter von Hells-Angels-Mitgliedern mit fünf Messerstichen in den Rücken getötet. Damit nahm das goldene neue Zeitalter, das „Age of Aquarius“, ein blutiges Ende.

Übrigens, dass die Bemühungen, ein „Woodstock 50“ zu veranstalten, endgültig gescheitert sein dürften, sollte Michael Lang nicht weiter betrüben. Mit dem Mythos lässt es sich weiterhin gut leben.